Nimmermehr!

Gedanken eines Dorfzwockels

Ein kleines Buch vom Rand der Gemeinschaft

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Vorwort

Man sagt, im Dorf kennt jeder jeden. Stimmt. Aber keiner kennt sich selbst.

Ich bin der Dorfzwockel. Nicht offiziell, versteht sich. Der Titel wurde mir verliehen – stillschweigend, ohne Urkunde, aber dafĂŒr mit lebenslanger GĂŒltigkeit. Ich bin der, ĂŒber den man redet, weil man ihn nicht versteht. Der, der nicht fragt – aber alles weiß. Der, der sich rausnimmt, nicht mitzumachen. Und gerade deshalb ĂŒberall mittendrin ist. Diese Gedanken sind nicht laut. Aber sie sind wahr. Oder zumindest: wahr genug.

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Kapitel 1: Der Tratsch ist schneller als der Bus

Ich steh am Fenster. Nicht, weil ich neugierig bin – ich steh halt da. Weil der Sessel da gut steht. Und weil’s eh nix g’scheiteres zum Anschauen gibt als die Dummheit, die sich draußen tĂ€glich neu anzieht.

Grad fĂ€hrt der Bus weg. Niemand is eingestiegen. War aber trotzdem voll. Mit GerĂŒchten.

Denn im Dorf, da brauchst ka WhatsApp – da reicht’s, wenn einer beim BĂ€cker niest, und zehn Minuten spĂ€ter is er entweder schwanger, pleite oder beim Auswandern. Meistens alles drei.

Ich schau also raus, wie der Franzl die Resi anschaut. Die Resi schaut zurĂŒck. Aber nicht zum Franzl – sondern zum Hofer-Sepp, der hinterm Franzl grad einparkt wie ein Elefant auf Glatteis. Der Tratsch beginnt in 3... 2... 1...

Ich lehn mich zurĂŒck. Mach mir einen Kaffee. Und denk mir: „Gott sei Dank redet keiner mit mir. Sonst mĂŒsst ich auch noch was sagen.“

Und das Schlimmste, was einem im Dorf passieren kann, ist, dazuzugehören. Denn wer dazugehört, muss mitspielen. Und wer mitspielt, wird irgendwann selbst zur Geschichte, die beim Friseur die Runde macht.

Aber ich bin der Dorfzwockel. Ich schau zu. Ich merk mir alles. Und ich red erst, wenn’s sich wirklich lohnt. Also
 wahrscheinlich nie.

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Kapitel 2: Wenn der Stammtisch mehr weiß als die Polizei

Der Stammtisch. Heiliger Ort der Halbwahrheiten und der ganzen MissverstĂ€ndnisse. Da wird gewusst, was keiner weiß – und behauptet, was nie passiert ist. Aber wehe, du sagst was dagegen – dann bist du der Spinner.

Letzten Freitag war ich wieder kurz dort. Also, nicht drin. Ich hab draußen gewartet, bis der Wind das Fenster aufmacht, und dann hört man eh alles.

„Der Mayer-Bua fĂ€hrt angeblich a BMW – und arbeitslos is er aa.“ „Der Hof vom Leitner steht angeblich zum Verkauf – oder is schon verkauft – weiß man net genau.“ „Die Tochter vom Schober? Studiert angeblich was mit Kunst, also praktisch: nix.“

Ich trink dabei meinen Dosenkaffee und frag mich, wie’s möglich ist, dass sich fĂŒnf Leute gleichzeitig so sicher sein können – und trotzdem komplett falsch liegen.

Die Polizei ist im Ort ĂŒbrigens auch ganz nett. Die fahren meist durch, winken, und hoffen, dass nix passiert. Weil wenn was passiert, dann weiß es der Stammtisch eh schon vorher. Und schlimmer: Er weiß warum.

Ich fĂŒr meinen Teil halt mich raus. Nicht, weil ich nichts weiß – sondern weil ich weiß, dass die nichts wissen. Und dass sie genau deshalb reden.

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Kapitel 3: Warum ich nicht auf die Weihnachtsfeier geh (und auch nicht eingeladen bin)

Ich war einmal dort. Ein einziges Mal. 2007 oder so. Vielleicht auch 2006 – is ja wurscht. Es war jedenfalls kalt, laut und voller Leute, die sich einmal im Jahr gegenseitig sagen, wie toll sie sich finden, obwohl sie sich den Rest vom Jahr nicht mal die TĂŒr aufhalten wĂŒrden.

Der BĂŒrgermeister hĂ€lt eine Rede, die niemand hören will. Der Kirchenchor singt zu hoch. Und der GlĂŒhwein ist so sĂŒĂŸ, dass man fast vergisst, wie kalt einem ist – bis man wieder draußen steht, allein, und merkt, dass’s alles nix war.

Dann fragt die Rosi vom Gemeinderat jedes Jahr: „Na, Zwockel – kommst heuer vielleicht doch wieder vorbei?“ Und ich sag jedes Mal das gleiche: „Nur wenn’s keinen GlĂŒhwein, keinen Chor und keinen BĂŒrgermeister gibt.“ Dann lachen sie. Und laden mich trotzdem nicht ein.

Das ist ok. Ich feier eh lieber fĂŒr mich. Mit ruhiger Musik, einer Kerze und einem Gedanken, der mir jedes Jahr durch den Kopf geht: „Die ham’s wieder nicht gemerkt, dass ich nicht da war.“

Und genau darum bin ich der Dorfzwockel. Ich bin kein Teil der Party. Ich bin das Echo danach.

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Kapitel 4: Die Kuh is nicht vom Himmel gefallen – aber fast

Es war Mittwoch. Oder Dienstag mit schlechtem Marketing. Ich saß wie immer auf meinem Bankerl, als’s plötzlich WUMMS macht. Alle springen auf, rennen raus, schreien durcheinander. Ich bleib sitzen. Weil ich weiß: Wenn was passiert, kommt’s sowieso zu mir. FrĂŒher oder spĂ€ter.

Die Kuh vom Bacherbauer liegt am Hang. Also halb. Die andre HĂ€lfte hĂ€ngt noch ĂŒberm Zaun. „Sie is ausgerutscht!“, sagt der Franzl. „Sie is vom Blitz erschreckt worden!“, sagt der andere. Und die Rosi flĂŒstert: „I sog’s ja: Der Bacher fĂŒttert die mit gentechnischem Soja – die KĂŒhe werden narrisch davon.“

Die Feuerwehr kommt, drei Mann stark – und zwei davon eh nur zum Schauen. Der Tierarzt kommt spĂ€ter, aber zu spĂ€t. Die Kuh ĂŒberlebt, aber der Mythos bleibt.

Noch Wochen danach reden sie davon, als wĂ€r sie vom Himmel gefallen. So wie der Franzl vom Baum, wo er „nur kurz a Äpfel holen“ wollt – aber statt Obst hat er sich den Oberschenkel gebrochen.

Bei uns im Dorf reicht ein Windstoß – und schon wird aus einem Rind eine fliegende Legende. Aber ich weiß’s besser: Die Kuh ist nicht gefallen. Sie ist einfach nur
 gegangen. Weil sie das Dorf nicht mehr ausgehalten hat.

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Kapitel 5: Was der Pfarrer denkt, wenn keiner zuhört

Sonntagvormittag. Die Kirchenglocken lĂ€uten wie immer zu lang und zu laut. Die Frommen strömen in die Kirche – oder zumindest die, die gern gesehen werden wollen.

Ich geh nicht. Nicht aus Protest – sondern aus Prinzip. Weil ich nicht lĂŒgen will, wenn ich „und vergib uns unsere Schuld“ sag, obwohl ich gar keine bereu.

Aber ich sitz manchmal am Rand. Hör von draußen zu. Und manchmal erwisch ich den Pfarrer beim Rausschauen. So, als ob er auch lieber draußen wĂ€r.

Er predigt ĂŒber NĂ€chstenliebe – und schaut dabei den Huber an, der letzte Woche seine Nachbarin beim Baugenehmigungsamt angeschwĂ€rzt hat. Er spricht von Bescheidenheit – und trĂ€gt eine neue Uhr, „geschenkt von der Gemeinde“. Und wenn er das „Vater unser“ anstimmt, weiß ich: Das Vaterland ist ihm nĂ€her als das Himmelreich.

Aber ich nehm’s ihm nicht ĂŒbel. Denn ich glaub, der Pfarrer weiß es selbst: Er redet, weil keiner wirklich zuhört. Und das ist gut so. Denn wenn sie zuhören wĂŒrden, mĂŒssten sie ja handeln. Und das wĂ€re
 anstrengend.

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Kapitel 6: Warum ich keine Meinung hab – aber trotzdem immer recht

„Na, Zwockel, was sagst denn du dazu?“ Diese Frage höre ich öfter, als mir lieb ist. Meistens, wenn’s um irgendwas geht, worĂŒber sich alle anderen schon gestritten haben. Ob der neue Kreisverkehr Sinn macht. Ob die Dorfjugend zu laut ist. Ob der BĂŒrgermeister heimlich mit der Kassiererin vom Lagerhaus flirtet.

Ich sag dann meistens: „I woaß ned.“ Was ĂŒbersetzt heißt: Ich weiß es sehr wohl, aber ich hab keine Lust, euch die Illusion zu nehmen, dass eure Meinung wichtig ist.

Denn: Wer keine Meinung hat, muss sich nie rechtfertigen. Wer nie rechtfertigt, verliert nie. Und wer nie verliert, hat immer recht – zumindest im eigenen Kopf. Und das reicht mir.

Im Dorf bist du entweder Teil der Diskussion – oder der, ĂŒber den diskutiert wird. Ich hab mich fĂŒr was Drittes entschieden: Ich bin der, der danebensteht, den Kopf schief legt und denkt: „Ihr macht das schon. Schief halt. Aber konsequent.“

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Ende
 oder Anfang vom Rest.

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Nachwort

Was du da gelesen hast, ist keine Autobiografie. Auch kein Roman. Und schon gar kein Ratgeber. Es ist einfach nur
 ein Blick von außen. Von drinnen.

Das Dorf ist ĂŒberall. In den Menschen, in den GesprĂ€chen, in den Blicken, die du nicht erwiderst. In den Festen, zu denen du nicht gehst, und in den Einladungen, die eh nur pro forma ausgesprochen werden.

Ich bin der Dorfzwockel. Und wenn du dich beim Lesen ein bisschen ertappt hast – dann bist du vielleicht auch einer.

Und das ist okay. Denn die Welt braucht nicht mehr Meinung. Sie braucht mehr Stille mit Haltung.

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Anhang: Die Landkarte des inneren Zwockel-Universums

Diese Karte findest du in keinem Navi. Aber du kannst sie jederzeit betreten – sofern du bereit bist, nicht mitzuspielen.

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Gedacht, nicht gesagt. Beobachtet, nicht bewertet. Dorfzwockel – out.