Nimmermehr!

KleintheaterstĂŒck

Titel: Der Dorfzwockel und die Negativdialektik Form: Einakter, Brecht/Weill-AnklĂ€nge, mit Chor. Spieldauer: ca. 12–18 Minuten.

Personen


BĂŒhne

Ein einfacher Dorfwirtshaus-Tisch, zwei BĂ€nke. An der Wand ein verblasstes PortrĂ€t; daneben ein Whiteboard mit der Aufschrift: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Eine Lampe, ein Schnapsglas, ein Apfel auf dem Tisch. Leise Klavierakkorde im Hintergrund (Weill-Ă€hnlich).


Szene 1 — Der Kondensstreifen

(ErzÀhler tritt vor. Licht auf ErzÀhler. Chor bleibt im Halbdunkel.)

ErzĂ€hler (kurz): Archivnotiz: IfS-Fragment, 1947. These: Negativdialektik als Diagnose. Archivnotiz: Feldbericht, 2024. These: Der Zwockel als lebendige Parodie. (Licht auf Tisch; Seminarist sitzt mit einem dĂŒnnen Buch. Dorfzwockel sitzt auf der Bank, HĂ€nde im Schoß.)

Seminarist (leise, zu sich): „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ — Man muss das lesen, nicht nur zitieren.

Dorfzwockel (ohne aufzusehen): Dann les es laut, damit auch die Kartoffeln verstehen, was du meinst.

Seminarist (hebt das Buch): Adorno schreibt — nein, er mahnt. Kritik soll die WidersprĂŒche zeigen, nicht verheilen.

Dorfzwockel (nickt): Aha. Also: zeigen. Nicht heilen. Wie der Hufschmied, der die Hufe auskratzt, nicht das Pferd noch mal neu erfindet.

Wirtin (kommt mit Krug): Redet hier einer Hegel? Oder nur kluge Leute, die nichts am Zaun reparieren?

Chor (leise, rhythmisch): Zeigen — nicht heilen, zeigen — nicht heilen.


Szene 2 — Die Praxis der Verweigerung

(Dorfzwockel steht, holt den Apfel vom Tisch, betrachtet ihn.)

Dorfzwockel: Ihr redet von falschem und richtigem Leben — ich lebe falsch im richtigen Dorf. Ich trage Stiefel, die Löcher haben, und sing’ bessere Lieder als eure Seminare. (Er beißt in den Apfel.) Und wenn der Markt ruft: „Kauf AuthentizitĂ€t!“, dann antworte ich: „Hier, nimm den Apfel, aber lass die BlĂŒte.“

Seminarist (gestikuliert): Das ist Romantisierung! Das ist RĂŒckzug in private Idylle!

Dorfzwockel (spöttisch): Und dein RĂŒckzug ist welche Form? In BĂŒcher, in Fußnoten? Man kann auch mit einem Apfel protestieren.

Wirtin (trocken): Apfelproteste haben Tradition. Erst klauen, dann erklÀren.

Chor (lauter): Klauen — erklĂ€ren — Klauen — erklĂ€ren.


Zwischenspiel — Lied (kurzer Couplet-Refrain)

(Leichte, perkussive Begleitung; der Chor singt, jeder Vers knapp, repetitiv.)

Chor (singend): Wenn das Leben falsch, sagst du richtig, kommt der Zwockel und macht’s nichtig. Er nimmt die Frucht, er nimmt den Rat — Widerstand im Schnapsglas statt im Staat.

(Ende des Refrains. Kurzes Piano-Intermezzo.)


Szene 3 — Theorie trifft Stammtisch

(Seminarist versucht, seine Stoßrichtung zu erklĂ€ren; Stapel Zitate auf dem Tisch.)

Seminarist: NegativitĂ€t, Widerspruch, Kulturindustrie — das sind Werkzeuge. Man darf sie nicht trivialisieren.

Dorfzwockel: Werkzeuge? (Er klopft am Tisch.) Das ist ein Holzbrett. Wenn du mir sagst, wie man NĂ€gel streicht, dann bau’ ich mir kein Haus daraus.

Seminarist (verunsichert): Du missverstehst. Adorno — seine Methodik ist ... sie ist zur PrĂŒfung da.

Dorfzwockel (ironisch): PrĂŒfung. (Er schaut zum Publikum.) PrĂŒfungen, sagten sie, gibt's in der UniversitĂ€t; hier gibt's nur die KartoffelprĂŒfung: Wie lang hĂ€lt die Kartoffel, bis sie faul wird? (Murmeln im Chor.)

Wirtin (klappt die HĂ€nde): Also, ihr beiden. Du, Seminarist, bringst Sprache, wir bringen Praxis. Und du, Zwockel, bringst das, was man nicht misst, aber sieht.

Chor (leise): Sieht — nicht misst.


Szene 4 — Der kondensierte Moment

(Dorfzwockel steht auf, geht langsam zum Whiteboard, reißt die aufgeschriebene Zeile „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ halb ab, schreibt darunter mit dicker Kreide:)

Dorfzwockel (laut): „Es gibt kein richtiges Leben im falschen — also lebe falsch, aber sichtbar!“ (HĂ€lt inne.) Wer sagt, dass Sichtbarkeit nur in Seminaren stattfindet? Sichtbar ist, wer geklaut hat, wer gelacht hat, wer nicht mitgemacht hat.

Seminarist (gespannter): Das ist ... eine Umkehrung. Eine Provokation.

Dorfzwockel: Provokation? Nein — Praxis. Ich kann Hegel zitieren, wĂ€hrend ich die Scheune mĂ€hre. Ich kann Adorno lesen, wĂ€hrend ich den Schnaps rĂŒhre. Theorien sind keine Kirchen; sie sind WerkstĂ€tten.

Chor (im Sprechgesang): Werkstatt — Schnaps — Hegel — Apfel.


Szene 5 — Abschluss und Verweigerung

(Die Wirtin reicht dem Dorfzwockel ein StĂŒck Brot. Der Seminarist bleibt mit dem Buch in der Hand. Der ErzĂ€hler tritt vor.)

ErzÀhler (knapp): Feldbericht: NonkonformitÀtsindex ungemessen. Ergebnis: Kritik gelebt. Empfehlung: Archive sollten lÀrmen.

Dorfzwockel (leise, direkt zum Publikum): Wenn Kritik nur in Zitaten wohnt, dann wohnen wir draußen. Kommt raus — wir haben Platz.

(Er wirft das ApfelkernstĂŒck in die Luft; es fĂ€llt, landet im Schnapsglas.)

Chor (singend, wiederholend — schließt): Zeigen — nicht heilen, zeigen — nicht heilen. Leben — falsch im richtigen. Zeigen — nicht heilen.

(Licht dimmt. Kurze, schneidende Akkorde. Vorhang.)


Spielanweisung / Stilhinweis