Warum der Eindruck von âWirtschaftsfaschismusâ zunimmt, obwohl die Strukturen noch stabil sind
1. Einleitung
In der deutschen und internationalen Ăffentlichkeit hĂ€ufen sich seit einigen Jahren Stimmen, die von einem âWirtschaftsfaschismusâ sprechen oder zumindest die Gefahr einer faschistoiden Wirtschaftspolitik andeuten. Die Wahrnehmung grĂŒndet sich auf Disziplinierungsregime (Hartz, BĂŒrgergeld), auf wachsende RĂŒstungsbudgets, auf Konzern-Lobbyismus und eine mediale Diskursverschiebung.
Doch analytisch bleibt das Problem: Deutschland erfĂŒllt zentrale Kriterien des Faschismusbegriffs nicht. Gleichwohl nimmt der mediale Eindruck zu. Dieses Papier untersucht, warum.
2. Faschismusbegriffe und ihre Grenzen
Nach Paxton (2004) und Griffin (1991) zeichnet sich Faschismus durch
- eine palingenetische HeilsverheiĂung,
- eine Einparteien- oder FĂŒhrerdiktatur,
- Zerschlagung pluraler Organisationen,
- totale Kriegsökonomie und
- systematische Gewalt aus.1
Deutschland erfĂŒllt diese Kriterien nicht: Parteienpluralismus, föderale Gewaltenteilung, unabhĂ€ngige Gerichte und internationale Einbindung bleiben bestehen. Indizes wie Freedom House (2024: âFreeâ), World Justice Project (2024: Platz 5/142 im Rechtsstaat-Ranking) und RSF (2024: Platz ~10 in der Pressefreiheit) belegen zwar Defizite, aber keine Systemtransformation.2
3. Mediale Faktoren des Eindrucks
3.1 Dramatisierende Frames
Medien nutzen martialische Begriffe: âZeitenwendeâ, âWirtschaftskriegâ, âKampf um den Standortâ. Solche Frames erzeugen den Eindruck einer Kriegswirtschaft, auch wenn Haushaltszahlen dies nicht rechtfertigen.3
3.2 Aufmerksamkeitspolitik
Wie Cammaerts (2020) zeigt, verstĂ€rken Medien radikale Begriffe, da sie mehr Reichweite generieren. Schlagworte wie âWirtschaftsfaschismusâ werden deshalb hĂ€ufiger zitiert als differenzierte Analysen.4
3.3 Diskursimporte
US-amerikanische Debatten ĂŒber âfascismâ und âcorporate fascismâ sickern in deutsche Diskurse ein. Begriffe werden ĂŒbernommen, ohne dass die institutionellen Kontexte deckungsgleich wĂ€ren.5
4. Strukturelle Faktoren der Wahrnehmung
4.1 Sozialpolitische Disziplinierung
Die Hartz-Gesetze haben den Diskurs geprĂ€gt: Sanktionen, Arbeitszwang, Profilbildung. Medienbilder (z. B. âSozialschmarotzerâ) verstĂ€rken das GefĂŒhl der Disziplinierung. Das erzeugt Alltagsautoritarismus, aber keinen Systembruch.6
4.2 RĂŒstung und Kriegsrhetorik
Nach 2022 verzeichnen Medien tĂ€glich Waffenlieferungen, Sondervermögen, NATO-Ziele. Das lĂ€sst eine âKriegsökonomieâ vermuten. Doch empirisch liegt die deutsche MilitĂ€rquote weiterhin bei ~2 % des BIP â weit entfernt von faschistischer Totalmobilisierung.7
4.3 Lobbydominanz
CEOs und Branchenvertreter sind in Talkshows omniprĂ€sent. Studien belegen, dass wirtschaftsnahe Frames stĂ€rker mediale Resonanz finden. Dadurch entsteht der Eindruck: Ăffentlichkeit = Konzerninteressen.8
5. Mikrofaschismen und Alltagsautoritarismus
Deleuze/Guattari (1977) sprachen von âMikrofaschismenâ: kleinste, alltĂ€gliche Macht- und Disziplinierungsformen. Verwaltung, Sanktionen, Algorithmik, BĂŒrokratie erzeugen autoritĂ€re Erfahrungen im Alltag. FĂŒr die Subjekte wirkt dies realer als abstrakte Verfassungswerte.
Doch: MikrophĂ€nomene â Makrostruktur. Sie sind Indikatoren fĂŒr Erosion, nicht fĂŒr faschistischen Vollzug.9
6. Institutionelle TrÀgheit
Trotz Defiziten zeigen Beispiele wie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Hartz-IV-Sanktionen (2019) die fortbestehende Bindung an Grundrechte.10 Institutionelle TrĂ€gheit â Gewaltenteilung, Föderalismus, EU-Rechtsbindung â verhindert bislang den Umschlag in eine faschistische Ordnung.
7. Synthese
Warum der Eindruck stÀrker wird:
- mediale Dramatisierung und Kriegsmetaphorik,
- US-Diskursimporte,
- sichtbare soziale Disziplinierung,
- LobbyprÀsenz und ökonomische Frames,
- Alltagsautoritarismus in Verwaltung und Arbeit.
Warum die Strukturen noch halten:
- rechtsstaatliche Kontrollen,
- pluralistische Institutionen,
- internationale Einbindung,
- niedrige MilitÀrquote im Vergleich zu klassischen Kriegswirtschaften.
8. Fazit
Die Diagnose âWirtschaftsfaschismusâ gewinnt diskursiv an Kraft, weil sie Erfahrung und Medienlogik bĂŒndelt. Strukturell jedoch greift sie zu weit. Treffender sind Begriffe wie autoritĂ€re Marktordnung, aktivierender Sozialstaat, Lobby-Demokratie oder verwaltete Kriegsökonomie.
Die Aufgabe kritischer Analyse ist es, den medialen Eindruck ernst zu nehmen, ihn aber mit empirischen Indikatoren zu konfrontieren â um Kritik scharf zu halten, ohne in Totalmetaphern abzugleiten.
Literatur / Quellen (Auswahl)
Footnotes
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Paxton, R. (2004). The Anatomy of Fascism. â©
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Freedom House (2024): Freedom in the World Report; World Justice Project (2024): Rule of Law Index; RSF (2024): World Press Freedom Index. â©
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Vgl. aktuelle Haushaltsberichte, RĂŒstungsdiskurs seit 2022. â©
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Cammaerts, B. (2020). The Neo-Fascist Discourse and its Normalisation Through Mediation. LSE. â©
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Vgl. US-Debatten um âCorporate Fascismâ und deren Ăbersetzungen. â©
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Vgl. Medienanalysen zu Hartz IV / BĂŒrgergeld. â©
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SIPRI / NATO Daten zur MilitĂ€rausgabenquote. â©
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Studien zu Lobbyismus und Medienresonanz in DE. â©
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Deleuze/Guattari (1977): Anti-Ădipus. â©
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BVerfG, Urteil v. 5.11.2019, 1 BvL 7/16 (Sanktionen). â©