Einleitung â Material als These
Das kurze Fragment aus dem Musterbuch Osttextilien im Ăbergang operiert zugleich als Objektbeschreibung, Feldnotiz und interpretierende These. Die lakonische Formulierung â âSchutz vor Zugluft und Fragenâ â markiert eine doppelte Funktion: das KleidungsstĂŒck als physischer WĂ€rmespender und als sozialer Panzer gegen neugierige Erwartungen der Umbruchszeit. Die beilĂ€ufige Inventarnotiz (423 Exemplare, Depot Wittenberge) rĂŒckt das EinzelstĂŒck sofort in den Modus der Kollektivprobe: Kleidung als quantifiziertes, institutionell verwahrtes Zeugnis historischer Ăkonomie.
Drei Lesarten des Textes
Material-semiotische Lesart Der Wattierte Stehkragen ist ein Signifikant: Wattung, Kragenhöhe und NahtfĂŒhrung kommunizieren Zugehörigkeit, Pragmatik und Ă€sthetische ZurĂŒckhaltung. âUniformersatzâ deutet an, dass Mode hier nicht nur Distinktion, sondern Kompensation leistet â ein Versuch, KontinuitĂ€t zu simulieren, wo institutionelle Sicherheiten entfallen.
Sozial-ökonomische Lesart Die Zahl 423 ist kein bloĂes Faktum, sie belegt Ăberproduktion, Absatzversagen oder verzögerte Marktintegration. Das Depot Wittenberge wird zum Ort der Nicht-Verwertung; Lagerbestand als Indikator gescheiterter Aneignungsprozesse in der Transformationsökonomie.
Archivische / performative Lesart Dr. Mantels Metapher â âJeder Stehkragen war ein Archiv; die Naht verriet mehr als die Protokolleâ â schlĂ€gt einen methodischen Wechsel vor: Archive nicht nur als Schriftgut, sondern als textiler Bestand. NĂ€hte, Ausbesserungen, Etiketten und Materialmischungen sind âProtokolleâ handwerklicher Praxis, rationierter Materialversorgung und alltĂ€glicher Anpassung.
Implikationen fĂŒr eine Forschungsfrage
Aus dem Fragment lassen sich prÀzise Forschungsmomente formulieren:
- Inwieweit fungierte Wattierung (als gestalterische Entscheidung) primĂ€r als sozialer Puffer gegenĂŒber Erwartungen (nostalgisch wie westlich) und erst sekundĂ€r als thermische Schicht?
- Was sagen LagerbestĂ€nde und Verteilungsstellen (z. B. Depot Wittenberge) ĂŒber die Logik der Distribution in den spĂ€ten Transformationsjahren?
- Wie lassen sich »Nahtprotokolle« (Sticharten, Reparaturspuren, Etiketten) als Quellen fĂŒr industrielle Organisation, Zulieferketten und individuelle Praktiken lesen?
Methodologische Skizze â Wie entschlĂŒsseln?
Objektanalyse (textile Materialkunde)
- Makro- und mikroskopische Untersuchung von Faserzusammensetzung, WattungsfĂŒllung, Stichfolge und Nahttechnik.
- Messung von WÀrmeleistung vs. wahrgenommener Schutzfunktion (thermische vs. symbolische EffektivitÀt).
Inventar- und Provenienzforschung
- Aktenlage zum VEB Oberhemdenwerk Gera, Produktionsserien, Absatzberichte. Nutzung der Inventarnummern (Modell #2314) zur Rekonstruktion von ProduktionszeitrÀumen.
- Depotforschung: Wittenberge als rĂ€umliche Fixierung von Ăberschuss â Lagerstruktur, Verweildauer, Disposition.
Oral History und Ethnographie
- Interviews mit NĂ€herinnen, VerkĂ€uferinnen, TrĂ€ger*innen â Reparaturpraktiken, Bedeutungszuschreibungen, narrativer Alltag.
- Lebensgeschichtliche ErzĂ€hlungen, die Disposition zwischen âAbwicklernâ und âAbgewickeltenâ beleuchten.
Kultur- und Diskursanalyse
- Untersuchung zeitgenössischer Medien, Werbung und Gebrauchsanweisungen; Vergleich mit westlichen Modellen der Kleiderverwendung.
- Analyse von Konservierungspraktiken in Museen: Was wird aufgehoben, was entsorgt â und warum?
Digitales Inventar / Datenbank
- Erfassung aller erhaltenen Exemplare mit Fotografien, Metadaten (MaĂe, Material, Reparaturen, Fundort). Ermöglicht quantitative Analysen (ReparaturhĂ€ufigkeit, Regionalverteilung).
Theoretische Einbettung (kurz)
Die Forderung, KleidungsstĂŒcke als »schweigende Protokolle« zu lesen, verlangt einen interdisziplinĂ€ren Blick: Materialkulturforschung, Arbeits- und Alltagsgeschichte sowie Soziologie der Transformation. Entscheidend ist, den Wechsel zwischen dem sichtbaren Zeichen (Form, Farbe, Etikett) und dem unsichtbaren Protokoll (Versorgungswege, politische Ăkonomie) analytisch zu verknĂŒpfen.
Forschungsmethodische Vorsicht / Ethik
Die Erforschung textiler Ăberreste berĂŒhrt Erinnerungen und IdentitĂ€ten. Oral-History-Interviews benötigen informierte Einwilligung; Depotstudien mĂŒssen die Provenienz sensibel behandeln (Verwertung vs. Erinnerungswert). Ăberdies ist bei Generalisierungen Vorsicht geboten: 423 Exemplare eines Modells sagen etwas ĂŒber Produktions- und Dispositionsstrukturen, nicht automatisch ĂŒber individuelle Praxis.
Forschungsdesiderata (konkret)
- Vergleichende Studie: Wattierte Kragen in Ost- vs. Westproduktion 1989â1997.
- Eine Mikrogeschichte des Depots Wittenberge: Wie werden dort GĂŒter bewegt, dokumentiert und vergessen?
- Edition: Katalog aller bekannten #2314-Exemplare mit textilen Befunden und TrÀger*innenzeugnissen.
Schlussbemerkung (These)
Das vorgelegte Fragment ist mehr als Inventar; es ist ein komprimiertes Argument: Kleidung konserviert ökonomische BrĂŒche und alltĂ€gliche Anpassungen zugleich. Wer den Stoff entschlĂŒsseln will, muss FĂ€den zĂ€hlen â buchstĂ€blich (Naht, Wattung, Reparatur) â und zugleich die Institutionen, Lagerorte und ErzĂ€hlungen befragen, die diese FĂ€den produzierten und bewahrten. Nur so wird aus dem «schweigenden Protokoll» eine lesbare Geschichte.