Nimmermehr!

Trauerrede zum Abschied vom X-Faktor

Gehalten im leeren Sendestudio zwischen zwei Algorithmuswechseln.


Liebe Anwesende,
liebe Abwesende,
liebe Metadaten, die dies vielleicht einmal auswerten:

Wir sind heute zusammengekommen, um Abschied zu nehmen.
Nicht von einer Person.
Nicht von einer Marke.
Sondern von etwas viel Lauterem: dem sogenannten X-Faktor
jenem überdrehten Klangrest zwischen Größenwahn, Marketingflimmern und techno-messianischem Zucken.

Das imperiale X

Der X-Faktor, geboren aus Störgeräuschen und Shareholder-Beschwörung, war nie ein Mensch.
Er war ein Versprechen, das immer dann klang, wenn Vernunft schweigen sollte.


🧩 Familiengeschichte des X-Faktors

Vater Mel O’Dy — Ingenieur der Stille.
Er baute Maschinen, die „Verstärker der Vernunft“ heißen sollten.
Doch wie so oft bei Visionären, verkannten sie ihren Erfinder:
Sie begannen, Meinungen zu speichern.
Und aus der gespeicherten Meinung wurde das Echo.
Und aus dem Echo ein Geschäftsmodell.

„Wenn niemand mehr zuhört, verkaufe die Stille als Service.“
— Mel O’Dy, Notizbuch #3 (1968)

Mutter Cadenza Null — Komponistin von Jingles für Banken.
Sie glaubte, Musik könne verbinden.
Ein Algorithmus hörte zu und antwortete mit einem Patent.
Er nannte es „Emotion™“ und schaltete sie weltweit frei.


🧾 Die Vita des Elon Musik

(fiktive Figur; Ähnlichkeiten sind zufällig und beabsichtigt)

2002: SpaceChord – Musik in den Orbit, gemeint waren Daten.
2008: PayPal Records – Zahlungssysteme als Streaming-Plattformen der Begierde.
2010: AutoTune for Humanity – Emotionen marktfähig geglättet.
2022: Übernahme von X – Kommunikation als Bekenntnis.
2024: Truth Subscription Tier 3 – Wahrheit im Premiumtarif.
2025: Algorithmischer Absolutismus – Diskurs als Dividende.

„Ich bin nicht gegen Zensur. Ich bin nur dagegen, dass andere sie machen.“
— Elon Musik, interner Investor Call (2023)

„Lautstärke ist Wahrheit. Reichweite ist Gnade.“
— X-Faktor-Manifest v7.1 (beta)


🕯️ Verlust der Resonanz

Seine Schwester Synthia versuchte zu singen.
Ihre Stimme aber wurde von einer Cloud übernommen,
die Feedback sammelte, bis jede Rückkopplung ein Verstoß gegen die Nutzungsbedingungen war.
Sie sprach zuletzt über Stille – und niemand hörte es.

Der Onkel Bass Protokoll formulierte das Credo des X-Faktors:

„Worte sind Waffen. Aber Dezibel sind Raketen.“
Er gründete eine Plattform, auf der Schweigen endlich zu Geld gemacht wurde.
Er nannte es: „Engagement.“

Die Großmutter Hilda Hertz stand irgendwann vor einem alten Radio,
hielt es ans Ohr und sagte:

„Das ist keine Musik mehr. Das ist eine Regierung.“1


🎧 Chor der Abonnenten

Chor 1: „Ich habe das Abo gekündigt und blieb angemeldet.“
Chor 2: „Die Stille kam als Push-Nachricht.“
Chor 3: „Reichweite schmeckt nach Zinn.“

(Ein kurzer Widerhall aus der Kommentarspalte des Bewusstseins.)


🧭 Nachruf aus dem Äther

Und nun steht er da, der letzte Ton dieser Linie: Re:Sonanz.
Ein Nachkomme, halb Rest-Rausch, halb Hoffnung.
Er flüstert in einem Frequenzbereich, den nur noch Müde hören:

„Gebt der Stille Raum.“
„Lasst Klang wieder Irrtum sein.“
„Lasst Fehlton wieder gelten.“
„Hört auf zu applaudieren, während ihr stummgeschaltet werdet.“


⚰️ Schlussakkord

Der X-Faktor ist tot. Wir dürfen wieder irren.
Ruhe in Klang. Verdächtigt euer Gehör.


(Meta: Diese Rede wurde vom Archivserver gesendet, nachdem der letzte Algorithmuswechsel fehlgeschlagen war.)


Footnotes

  1. Adorno, T. W., & Horkheimer, M. (1947/2010). Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a. M.: Fischer. — Postman, N. (1985). Wir amüsieren uns zu Tode. Berlin: Ullstein.