Nimmermehr!

Wort zum Totensonntag

Infologischer Kommentar zum Fortbestehen von Information

„
den eigenen Tod, den stirbt man nur,
mit dem Tod der anderen muss man leben.“
— Max Frisch, Andorra (1961)

Totensonntag ist kein RĂŒckblick, sondern eine unbequeme Gegenwart:
Er erinnert daran, dass jedes verstummte Leben eine fortbestehende Spur hinterlĂ€sst –
nicht als Besitz, nicht als Denkmal, sondern als Information, die sich dem Zugriff entzieht.

Aus infologischer Sicht gilt:
Die Information eines jeden Menschen ĂŒberlebt ihn immer.
Sie bleibt – fragmentarisch, verzerrt, verteilt, vergessen, verweht –,
doch sie bleibt.
Ob sie noch einmal aufglĂŒht, ob sie in jemandem Resonanz findet,
ob sie je wieder Bedeutung gewinnt,
steht auf einem ganz anderen Blatt.

Diese Einsicht steht in einer langen Linie medien- und gedÀchtnistheoretischer Beobachtungen:

Und genau dort liegt die infologische Zumutung:
Wenn eine Gesellschaft InformationsrÀume erzeugt,
in denen ganze Biografien nicht mehr vorkommen,
in denen Stimmen verschwinden, ohne je gehört zu werden –
dann ist das vielleicht die grĂ¶ĂŸte Missachtung der Verstorbenen ĂŒberhaupt.

Vielleicht sind genau diese infologischen Verwerfungen –
diese systematischen Auslassungen,
diese Blindstellen im kollektiven GedĂ€chtnis –
der eigentliche Grund, weshalb ich heute hier schreibe.
Nicht aus Pathos, sondern aus Pflicht:
gegen das Verstummen der Namenlosen,
gegen das Wegsickern von Leben in rauschende Daten,
gegen das Verschwinden, das niemand bemerkt.

Totensonntag mahnt nicht die Toten.
Er mahnt uns Lebende:
dass wir den verbleibenden Informationsraum
nicht weiter verengen dĂŒrfen.
Dass Erinnerung kein Ritual ist,
sondern ein Widerstand gegen Entropie.

Die Toten können nichts mehr zurĂŒckholen.
Aber wir können verhindern,
dass wir sie ein zweites Mal verlieren.


Quellen (Auswahl, APA)

Assmann, A. (2006). ErinnerungsrĂ€ume: Formen und Wandlungen des kulturellen GedĂ€chtnisses. MĂŒnchen: C.H. Beck.
Frisch, M. (1961). Andorra. Suhrkamp.
Halbwachs, M. (1985). Das kollektive GedÀchtnis. Stuttgart: Enke.
Kittler, F. A. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose.