Nimmermehr!

MĂ€rchen: Die Sternenbeutelchen

Das Bild zeigt ein junges MĂ€dchen, das in einer mittelalterlichen Stadt steht, ĂŒber deren Kopf Sterne scheinen, wĂ€hrend GoldmĂŒnzen auf dem Boden verstreut liegen. Das Bild zeigt einen kleinen, niedlichen Jungen mit braunen Haaren, der einen beigefarbenen Kittel mit braunem GĂŒrtel trĂ€gt. Er steht in der Mitte einer gepflasterten Gasse, die von mittelalterlichen FachwerkhĂ€usern gesĂ€umt ist. Die HĂ€user sind aus dunklem Holz gebaut und haben spitze DĂ€cher. Einige HĂ€user haben kleine, beleuchtete Fenster, die ein warmes Licht ausstrahlen. Auf dem Boden vor den HĂ€usern befinden sich mehrere StĂ€nde, auf denen GoldmĂŒnzen ausgestellt sind. Auf dem Pflaster der Gasse liegen weitere GoldmĂŒnzen verstreut. Im Hintergrund ist eine WindmĂŒhle und eine leicht hĂŒgelige Landschaft zu erkennen.  Der Himmel ist dunkel, aber ein Halbmond und einige leuchtende Sterne sind sichtbar.  Insbesondere scheinen einige Sterne direkt ĂŒber dem Kopf des Kindes zu schweben. Zwei erwachsene Personen sind im Hintergrund in der Ferne zu erkennen, die in die gleiche Richtung laufen wie das Kind. Die AtmosphĂ€re ist ruhig und geheimnisvoll. Die Farben sind gedĂ€mpft und erdig, mit warmen Akzenten vom Licht der Fenster und dem Gold. Die Stimmung ist positiv und trĂ€umerisch, mit einem Hauch von Magie oder Wunder, angesichts der Sterne ĂŒber dem Kind und den vielen GoldmĂŒnzen.  Das Bild wirkt insgesamt wie eine Illustration fĂŒr ein Kinderbuch oder ein Fantasy-Spiel.

Es war einmal ein Kind, das allein am Rande eines Dorfes wohnte. Die Leute nannten es freundlich „Sternkind“, denn wenn es lachte, schien das LĂ€cheln wie ein kleiner Schein am Abendhimmel. Sternkind hatte zwei kleine Beutelchen an der SchĂŒrze: das eine war aus festem Leinen — das sparsame Beutelchen —, das andere aus dĂŒnnem Tuch — das Möglichkeitenbeutelchen.

Eines Tages fand Sternkind auf dem Markt einen silbernen Heller. „Nimm ihn“, flĂŒsterte die WindmĂŒhle, die schon lange sah, wie das Kind anderen half. Sternkind legte den Heller in das sparsame Beutelchen und ging weiter. Als ein MĂŒller vorbeikam und fragte, ob es helfen wolle, den Sack zu tragen, lĂ€chelte Sternkind und sagte: „Ja, gern.“ Der MĂŒller gab ihm zwei Heller, doch als ein alter Freund um einen Taler bat, um die Krippe zu fĂŒllen, sagte Sternkind: „Nimm, du brauchst ihn mehr als ich“, und zog den Taler aus dem Möglichkeitenbeutelchen heraus, ohne zu fragen, ob ihm der Taler zustand.

Die Monate vergingen. Sternkind gab oft — an Hungrige, an frierende KĂ€tzchen, an die, die Hilfe baten. Das sparsame Beutelchen aber fĂŒllte sich leise: immer ein Heller zurĂŒckgelegt, manchmal ein Taler, den es nicht ausgegeben hatte, weil es dachte: „Ein wenig fĂŒr morgen.“ Das Möglichkeitenbeutelchen hingegen blieb oft leer. Nicht weil Sternkind geizig war, sondern weil es viele Chancen, so zu sagen, nicht ergriff: es bat nicht um den Lohn fĂŒr geleistete Arbeit, es vergaß manchmal, den Korb mit Äpfeln zu verkaufen, die es gepflĂŒckt hatte, oder es nahm nicht den Dank an, der in einem ehrlich gezahlten Heller lag.

Eines Nachts, als Sternkind traurig unter den BĂ€umen saß, sprach der Himmel zu ihm — sachte, wie ein leiser Chor —: „Reich wird, wer HĂŒte vor dem Wind schließt und das, was ihm gehört, nicht fortwirft; arm wird, wer Geschenke vergisst, die ihm zustehen.“ Und als Sternkind begriff, sah es, wie aus dem sparsam gehĂŒteten Heller am Morgen kleine Sterne keimten: nicht in Gold verwandelt, nein — sondern in Brot, in sicheren SchlafplĂ€tzen, in einem Lehmofen, der selbst dann warm blieb, wenn der Winter kam. Die Sterne kamen aber nur dort hin, wo das Kind gelernt hatte, zwischen Geben und Bewahren zu unterscheiden.

So lernte Sternkind: Es ist schön zu teilen — das Herz wĂ€chst dadurch —, aber man muss auch das annehmen, was einem rechtmĂ€ĂŸig zusteht. Denn wer den Lohn nicht nimmt, dem fehlen am Ende die BrĂŒcken fĂŒr das Morgen; wer dagegen mit Bedacht spart, hat eine Lampe, die in dunkler Nacht leuchtet. Und die Sterne, die es gefunden hatte, fielen nicht vom Himmel ohne Ursache — sie fielen dorthin, wo das rechte Maß gewahrt wurde.

Akademische Exegese (kurz)

Fragestellung. Der Aphorismus „Reich wird man durch das Geld, das man nicht ausgibt, arm wird man durch das Geld, das man nicht einnimmt“ verknĂŒpft zwei ökonomische Mechanismen: Sparverhalten (Ansammlung von Mittel durch Nicht-Konsum) und Ertragsrealisation (Verlust durch Nichterhebung von AnsprĂŒchen oder Unterlassen von Einnahmen). Im MĂ€rchen dient die Figur des Sternkindes als heuristisches Subjekt, das beide Mechanismen erfĂ€hrt.

Symbolik.

Moralökonomische Balance. Das MĂ€rchen vermittelt eine doppelte ethische Forderung: Altruismus bleibt wertgeschĂ€tzt (das Geben), doch er darf die FĂ€higkeit zur Selbstsorge nicht zerstören. PĂ€dagogisch wird so ein verantwortetes VerhĂ€ltnis zu Ressourcen vermittelt — Kinder lernen, dass GroßzĂŒgigkeit und Selbstachtung sich nicht ausschließen.

Didaktische Hinweise fĂŒr Vorlesende.

  1. Betonung: Unterschied zwischen „nicht ausgeben“ als kluges Hegen (Sparen) und „nicht einnehmen“ als Selbstverzicht, der zu Nachteilen fĂŒhren kann.
  2. Diskussionsfragen: Wann ist Teilen gut? Wann schadet dauerndes Nicht-Annehmen dem eigenen Wohlergehen?
  3. AktivitÀt: Ein einfaches Spiel mit zwei Beuteln (Sparen / Chancen ergreifen) zur Reflexion von Geben und Nehmen.

Schluss. Das MĂ€rchen liest den Aphorismus nicht als Rechtfertigung reinen Hortenstrebens, sondern als Aufruf zur MĂ€ĂŸigung: Reichtum (im Sinne von Geborgenheit und HandlungsfĂ€higkeit) wĂ€chst durch umsichtiges Bewahren; Armut entsteht, wenn man die FrĂŒchte eigener Arbeit oder legitime Forderungen nicht erhebt. FĂŒr Kinder wird daraus eine zugĂ€ngliche Ethik des Mittelsinns: gib gern — aber verliere nie das Recht, auch fĂŒr dich zu sorgen.