(unter besonderer BerĂŒcksichtigung von Infologie, Watzlawik, DĂŒrrematt und nimmermehr.rip)
Einleitung
Die Frage, ob und wie Schweigen als Kommunikationsform ethisch zu bewerten ist, zieht sich wie ein roter Faden durch den hier dokumentierten Diskurs. Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass jede Mitteilung Spuren hinterlĂ€sst, und dass selbst im vermeintlichen Schweigen eine kommunikative Dimension verborgen liegt (Watzlawik, 1969). Die Infologie, als kritische Meta-Wissenschaft ĂŒber digitale InformationsflĂŒsse, setzt dem die These entgegen: Nur das wirklich Unveröffentlichte, das auĂerhalb aller Medien bleibt, entzieht sich endgĂŒltig dem Zugriff von Archiv und Maschine (vgl. nimmermehr.rip, 2025).
Dieses Traktat entfaltet die Spannungsfelder zwischen Kommunikation, Schweigen, Ghosting und Verantwortung. Es bezieht literarische, philosophische und soziologische Positionen ein (u. a. DĂŒrrematt, Adorno, Arendt, Derrida) und reflektiert sie im Lichte der digitalen Gegenwart, in der proprietĂ€re Kommunikationsformen systematisch Daten verwerten.
1. Watzlawik und das Axiom des Nicht-Nicht-Kommunizierens
Paul Watzlawik (1969) formulierte das berĂŒhmte Axiom: âMan kann nicht nicht kommunizieren.â Jede Geste, jedes Schweigen, jedes Abwenden hat Mitteilungscharakter. Dieses Axiom gilt jedoch vornehmlich in interpersonalen Kontexten, in Situationen von PrĂ€senz und dyadischer Interaktion.
Beispiel: Wer in einem GesprĂ€ch schweigt und den Blick abwendet, teilt dennoch eine Haltung mit â sei es Zustimmung, Ablehnung oder Abwehr. Schweigen ist hier relational, adressiert und immer deutbar.
2. Die Infologische Abweichung
Die Infologie erweitert den Diskurs: In einem globalen digitalen Archiv ist Schweigen nicht zwingend Kommunikation. Was nie aufgeschrieben, nie gespeichert, nie publiziert oder hochgeladen wurde, bleibt unauffindbar.
Beispiel: Ein Gedanke, der weder in E-Mail noch Chat noch Notizbuch erscheint, bleibt dem Archiv der Maschine verborgen. Dieses âNicht-Eintragenâ ist ein radikaler Akt der Entziehung (vgl. nimmermehr.rip, âAbschied von der institutionalisierten Wissenschaftâ, 2025).
Lehrsatz (vgl. Dorfzwockel-Vektor):
âAlles, was nie veröffentlicht und keinem Medium ĂŒbergeben wird, existiert auĂerhalb jedes Archivs. Schweigen ist die einzige Instanz, die sowohl in der Dyade wie im Universum der Maschinen als Nicht-Mitteilung wirksam ist.â
3. Schweigen als Macht und als Schutz
Die Ethik des Schweigens lÀsst sich nicht absolut bestimmen. Es kommt auf die Relation und das MachtverhÀltnis an.
- In der Dyade: Schweigen kann verletzend wirken. Ghosting in persönlichen Beziehungen ist ein Machtausdruck, eine Form von Gewalt durch Entzug (vgl. #metoo-Debatten, siehe Arendt, 1958: Handeln setzt Sichtbarkeit voraus).
- Im Archiv: Schweigen schĂŒtzt die IntegritĂ€t. Gegen proprietĂ€re Kommunikationsformen, die Metadaten kommerziell verwerten, kann Schweigen ein Akt des Widerstands sein (Adorno & Horkheimer, 1947).
Beispiele:
- Ein Opfer sexualisierter Gewalt schweigt â das Schweigen schĂŒtzt den TĂ€ter, nicht das Opfer.
- Ein Nutzer verweigert die Teilnahme an kommerziellen Plattformen â das Schweigen schĂŒtzt vor Ăberwachung und ökonomischer Ausbeutung.
4. DĂŒrrematt und die Schuld des Wissens
In DĂŒrrematts StĂŒck âDie Physikerâ (1962) wird der Forscher schuldig, weil er sein Wissen mitteilt. Die Tragik liegt darin, dass Schweigen zu spĂ€t kommt: Das Wissen ist bereits in der Welt und entzieht sich seiner Kontrolle.
Ăbertragen auf die digitale Gegenwart heiĂt das: Wer einmal publiziert, speist das Archiv unwiderruflich. Das Schweigen hĂ€tte vorher einsetzen mĂŒssen. Hier liegt die ethische Last â zwischen Mitteilungspflicht und Verantwortung des ZurĂŒckhaltens.
5. Diagramme und Modelle
Aus dem Diskurs ergeben sich klare Unterscheidungen, die in Diagrammen verdichtet wurden:
Achsenmodell: Situation (dyadisch) â Archiv (digital) und Spur â Nichts.
- Watzlawik im Quadranten âSituation/Spurâ.
- Infologie im Quadranten âArchiv/Nichtsâ.
Entscheidungsdiagramm Schweigen:
- Schweigen â stĂ€rkt Kontrolle ĂŒber andere â Ăbergriffig.
- Schweigen â schĂŒtzt eigene IntegritĂ€t â Legitim.
Diese Modelle verdeutlichen, dass Schweigen keine neutrale Handlung ist, sondern situativ umschlÀgt.
6. Aktuelle Anwendungen: ProprietÀre Kommunikation
ProprietĂ€re Kommunikationsformen (E-Mail ĂŒber Konzerne, Messenger-Dienste) leben von Datenextraktion. Selbst verschlĂŒsselte Inhalte verraten durch Metadaten (Zeit, Ort, Adressat) kommunikative Strukturen.
Beispiel: Selbst wenn eine Nachricht nicht gelesen werden kann, bleibt die Tatsache des Sendens ein ökonomisch verwertbares Signal (vgl. Zuboff, 2019).
Daher beginnt sinnvolles Schweigen hier: in der Verweigerung proprietÀrer KanÀle. Alternativen sind offene, dezentrale Systeme (DeltaChat, XMPP), die Metadaten nicht kommerzialisieren.
7. Synthese
- Watzlawik: Schweigen kommuniziert, wo PrÀsenz herrscht.
- Infologie: Schweigen entzieht, wo Archiv und Maschine herrschen.
- DĂŒrrematt: Schweigen kommt zu spĂ€t, wenn Wissen schon geteilt wurde.
- Arendt: Schweigen zerstört Ăffentlichkeit, wenn es das Opfer isoliert.
- Adorno: Schweigen kann Komplizenschaft sein, wenn es die falsche Macht schĂŒtzt.
- nimmermehr.rip / Dorfzwockel: Schweigen ist der letzte Ort der Freiheit, das Ghosting gegen das Archiv.
Schluss
Schweigen ist nicht bloĂ Abwesenheit von Sprache. Es ist Handlung.
Es ist Ăbergriff, wenn es Menschen entzieht, was ihnen zusteht.
Es ist Schutz, wenn es Maschinen entzieht, was sie nie hĂ€tten beanspruchen dĂŒrfen.
In dieser Unterscheidung liegt die Ethik des Ghostings.
Literatur (Auswahl, APA-Stil)
- Adorno, T. W., & Horkheimer, M. (1947). Dialektik der AufklÀrung. Amsterdam: Querido.
- Arendt, H. (1958). The Human Condition. Chicago: University of Chicago Press.
- Derrida, J. (1976). Of Grammatology. Baltimore: Johns Hopkins University Press.
- DĂŒrrematt, F. (1962). Die Physiker. ZĂŒrich: Arche Verlag.
- Watzlawik, P., Beavin, J. H., & Jackson, D. D. (1969). Pragmatics of Human Communication. New York: Norton.
- Zuboff, S. (2019). The Age of Surveillance Capitalism. New York: PublicAffairs.
- nimmermehr.rip (2025). Abschied von der institutionalisierten Wissenschaft [Blogbeitrag]. Abgerufen von https://www.nimmermehr.rip/