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Abwesenheit als Intervention: PĂ€dagogisches Ignorieren, „Ghosting“ und die Sprache des Schweigens

Abwesenheit ist nie nichts

Abstract.
Der Aufsatz rekonstruiert „Abwesenheit“ als kommunikative und interventionelle Praxis in PĂ€dagogik und Alltagskommunikation. Ausgangspunkt ist die Spannung zwischen Normen (Anstand, ReziprozitĂ€t) und Selbstschutz (Gesundheit, Deeskalation). Theoretisch rahmen Watzlawicks Axiom „man kann nicht nicht kommunizieren“ sowie die Pragmatik des Schweigens die Analyse. Empirisch werden (a) planned ignoring als verhaltensanalytische Extinktionsprozedur mitsamt Nebenwirkungen (Extinktionsburst, Aggression) und neueren Differenzierungen sowie (b) Ghosting als digitale Form sozialer Ausgrenzung (Ostrakismus) beleuchtet. Daraus werden Kriterien fĂŒr „verantwortliche Abwesenheit“ abgeleitet: Begrenzung, Sicherheit, Funktionsdiagnose und – wo möglich – transparente Metakommunikation.


1. Einleitung: Normen, Selbstschutz, Abwesenheit

„Es ist unanstĂ€ndig zu ghosten, wenngleich es oft gesĂŒnder ist“ – diese Alltagsthesis markiert ein Dilemma zwischen Interaktionsnormen (Antwortpflicht, Face-Work) und den legitimen Grenzen des Selbstschutzes. Kommunikationstheoretisch ist Stille keine Leerstelle, sondern ein Zeichen mit Effekten; moralisch ist Abwesenheit weder per se verwerflich noch per se heilend. Die Frage ist wovon, wogegen und zu welchen Bedingungen man sich entzieht. Dieser Beitrag kartiert das Feld zwischen pĂ€dagogischem Ignorieren, digitalem Ghosting und der „Sprache der Abwesenheit“.

2. Theoretischer Rahmen: Abwesenheit spricht

Watzlawick, Beavin & Jackson beschreiben Kommunikation als System wechselseitiger Bedeutungszuschreibungen; die Pointe: Verhalten (inkl. Schweigen) kommuniziert immer – non facere ist ein facere im Interaktionskontext. Damit wird Stille zur Metabotschaft („Ich entziehe mich“, „Ich deeskaliere“, „Ich sanktioniere“, „Ich schĂŒtze mich“).

Pragmalinguistisch hat Schweigen unterschiedliche Funktionen: Ausdruck, Höflichkeit, MachtausĂŒbung, Sanktion, Affektregulierung. Ephratt typologisiert diese Gebrauchsweisen und zeigt, dass „Schweigen“ nicht semantische Leere, sondern intentionaler Akt ist.

3. PÀdagogisches Ignorieren als Extinktion: Evidenz, Nebenwirkungen, PrÀzisierung

In der angewandten Verhaltensanalyse meint planned ignoring meist eine Extinktionsprozedur: Aufmerksamkeit (als VerstÀrker) wird bei minor, attention-maintained Verhalten systematisch entzogen, um die Verhaltensrate zu senken (klassisch nach Lerman & Iwata).

3.1 Wirklogik und Nebenwirkungen

Extinktion ist wirksam, aber nicht friktionsfrei. Studien berichten Extinktionsbursts (kurzfristige Zunahme des Zielverhaltens) und teils Aggressionsanstiege als Nebenwirkungen, besonders wenn Extinktion allein eingesetzt wird. Reviews und Fallanalysen quantifizieren u. a. Bursts in etwa 24 % der DatensĂ€tze; Risiken sinken, wenn Extinktion in Behandlungspakete (Differenzielle VerstĂ€rkung, FCT, Anreizgestaltung) eingebettet ist. Neuere Übersichten prĂ€zisieren Bedingungen und quantitative Modelle (z. B. Matching-Law-AnsĂ€tze).

3.2 Implementationsleitlinien

SchulpĂ€dagogische Ableitungen empfehlen planned ignoring nur bei geringfĂŒgigen, auf Aufmerksamkeit beruhenden Verhaltensweisen, gepaart mit geplantem Lob und VerstĂ€rkung erwĂŒnschter Alternativen; strukturelle KlassenfĂŒhrung bleibt der PrimĂ€rhebel.

3.3 Begriffliche Revision

Aktuelle Debatten raten, den unscharfen Sammelbegriff „ignore“ zu meiden und funktional prĂ€zise zu spezifizieren, was genau entzogen wird (Blicke? verbale Reaktion? Zugang?) und welche Funktion das Verhalten hat. Das verringert Fehlanwendungen und Sicherheitsrisiken. ErgĂ€nzend schlagen Tarbox et al. „kind extinction“ als prozedurale Variation vor, die Belastungen reduziert (z. B. durch graduelles AusdĂŒnnen, Prompt-StĂŒtzsysteme).

Zwischenfazit: PĂ€dagogisches Ignorieren ist kein moralisches Urteil ĂŒber Personen, sondern eine funktionale Intervention mit klaren Einschluss- und Ausschlusskriterien.

4. Ghosting und digitaler Ostrakismus: Befunde jenseits der PĂ€dagogik

„Ghosting“ bezeichnet die einseitige, meist kommentarlos vollzogene Kommunikationsbeendigung in dyadischen Beziehungen (romantisch, freundschaftlich), hĂ€ufig in mediatisierten Kontexten. Qualitative Pionierarbeiten (LeFebvre et al.) beschreiben Motive (Selbstschutz, Konfliktvermeidung, Bequemlichkeit) und Ablaufmuster. Quantitative Studien zeigen Korrelate (z. B. Lebenszufriedenheit, Einsamkeit) und Normvorstellungen; Letztere variieren systematisch mit eigener Ghosting-Erfahrung. LĂ€ngsschnittlich differenziert Forrai et al.: Ghosting von Freund:innen sagt steigende depressive Tendenzen voraus, romantisches Ghosting nicht; PrĂ€diktoren unterscheiden sich (KommunikationsĂŒberlastung vs. Selbstwert).

Diese Praktiken sind eingebettet in die breitere Literatur zu Ostrakismus: Bereits minimale „Online-Ignoranz“ (Cyberball) bedroht Zugehörigkeit, Selbstwert, Kontrolle, sinnhaftes Dasein und löst Schmerz/Ärger aus. Auch auf sozialen Plattformen zeigt sich dieses Muster (z. B. weniger Likes/Antworten → Need-Threat).

Unterschied zur PĂ€dagogik: Ghosting ist unspezifische, indefinite Abwesenheit ohne vorherige Metakommunikation und ohne funktionale Verhaltensdiagnose. Es kann – unabhĂ€ngig von Intention – als soziale Ausgrenzung wirken.

5. Normative AbwĂ€gung: „UnanstĂ€ndig, doch heilsam?“

Die Moral der Abwesenheit hÀngt von Funktion, Reichweite und Transparenz ab:

  1. Selbstschutz ist legitim, besonders bei Gewalt, Stalking, eskalierendem Missbrauch oder klar dysfunktionalen Interaktionsmustern.
  2. Schadenminimierung verlangt AbwĂ€gung: Wo Abwesenheit faktisch Ostrakismus signalisiert, steigen Risiken fĂŒr die Gegenseite (Need-Threat, negative Affekte).
  3. Verantwortliche Abwesenheit folgt – wo sicher möglich – dem Prinzip signalisiere Grenzen, begrenze Dauer, benutze Alternativen: kurze „Closure-Botschaft“, zeitlich begrenzte Kontaktpause, Verweis auf sichere KanĂ€le. (In pĂ€dagogischen Settings: nur minor attention-maintained Verhalten, Safety-Checks, Paket-Ansatz.)

6. Praxisheuristiken (kontextsensitiv, forschungsbasiert)

FĂŒr Unterricht/Erziehung

FĂŒr Alltags-/Online-Beziehungen

7. Grenzen und offene Fragen

Die Ghosting-Forschung ist jung; viele Befunde sind querschnittlich, kontextabhĂ€ngig und US-lastig. LĂ€ngsschnitt- und Interventionsstudien (z. B. Wirkung kurzer Closure-Hinweise) fehlen weitgehend. Auch in der ABA-Praxis werden Extinktionsprozeduren laufend feinjustiert (z. B. „kind extinction“), doch robuste Vergleichsstudien zu Belastungsprofilen stehen aus.

8. Fazit

Abwesenheit ist nie nichts. Sie ist Zeichen, Strategie und (manchmal) Therapie. PĂ€dagogisch kann geplantes, funktional begrĂŒndetes Nicht-Reagieren Verhalten verlernen helfen – jedoch nur eng begrenzt, eingebettet und sicherheitsbewusst. Im Zwischenmenschlichen kann RĂŒckzug heilsam sein; doch unmarkiertes Ghosting trĂ€gt die Signatur des Ostrakismus. Verantwortliche Abwesenheit ĂŒbersetzt Selbstschutz in begrenzte, kenntlich gemachte Distanz – und nimmt die kommunikative Wirkung des Schweigens ernst.


Literatur (APA 7; DOI wo verfĂŒgbar)

Ephratt, M. (2008). The functions of silence. Journal of Pragmatics, 40(11), 1909–1938. https://doi.org/10.1016/j.pragma.2008.03.009

Forrai, M., Koban, K., & Matthes, J. (2023). Short-sighted ghosts. Psychological antecedents and consequences of ghosting others within emerging adults’ romantic relationships and friendships. Telematics and Informatics, 80, 101969. https://doi.org/10.1016/j.tele.2023.101969

Fisher, W. W., Greer, B. D., & Querim, A. C. (2023). Basic and applied research on extinction bursts. Journal of Applied Behavior Analysis, 56(1), 3–24. https://doi.org/10.1002/jaba.954

LeFebvre, L. E., Allen, M., Rasner, R. D., Garstad, S., Wilms, A., & Parrish, C. (2019). Ghosting in emerging adults’ romantic relationships: The digital dissolution disappearance strategy. Imagination, Cognition and Personality, 39(2), 125–150. https://doi.org/10.1177/0276236618820519

Lerman, D. C., & Iwata, B. A. (1995). Prevalence of the extinction burst and its attenuation during treatment. Journal of Applied Behavior Analysis, 28(1), 93–94. https://doi.org/10.1901/jaba.1995.28-93

Lerman, D. C., & Iwata, B. A. (1996). Developing a technology for the use of operant extinction in clinical settings: An examination of basic and applied research. Journal of Applied Behavior Analysis, 29(3), 345–382. https://doi.org/10.1901/jaba.1996.29-345

Lerman, D. C., Iwata, B. A., & Wallace, M. D. (1999). Side effects of extinction: Prevalence of bursting and aggression during the treatment of self-injurious behavior. Journal of Applied Behavior Analysis, 32(1), 1–8. https://doi.org/10.1901/jaba.1999.32-1

Tarbox, J., Wilke, A. E., & Najdowski, A. C. (2022). Kind extinction: Making extinction less difficult for children with autism. Behavior Analysis in Practice, 15(1), 178–188. https://doi.org/10.1007/s40617-021-00605-2