Eine objektiv-hermeneutische Untersuchung anhand eines ökonomischen Aphorismus
Einleitung
In Zeiten wachsender sozialer Ungleichheit gewinnt die Frage nach den Mechanismen der Vermögensbildung und -verteilung an Dringlichkeit. Der hier untersuchte Aphorismus:
„Reich wird man durch das Geld, das man nicht ausgibt, arm wird man durch das Geld, das man nicht einnimmt.“
verdichtet in knapper Form eine doppelte ökonomische Logik: die Akkumulation durch Konsumverzicht und die Verarmung durch Einkommensmangel. Beide Hälften der Aussage verweisen auf unterschiedliche Ebenen des Wirtschaftens – die individuelle Ebene der Handlungsstrategien und die strukturelle Ebene gesellschaftlicher Ressourcenverteilung.
Ziel dieser Arbeit ist es, mithilfe der objektiven Hermeneutik nach Ulrich Oevermann die latenten Sinnstrukturen dieses Aphorismus zu rekonstruieren. Dabei werden historische, soziologische und handlungstheoretische Perspektiven integriert, um die zugrunde liegende ökonomische Dialektik in ihrer Vielschichtigkeit zu erfassen.
Theoretischer Rahmen und Methodik
Die Methode der objektiven Hermeneutik ermöglicht es, sprachliche Äußerungen als Ausdruck tief liegender sozialer und kultureller Sinnstrukturen zu interpretieren.1 Die Untersuchung richtet sich auf die Sequenzialität und Fallstrukturgesetzlichkeit ökonomischen Handelns, wobei der Aphorismus als exemplarischer Fall sozialer Praxis analysiert wird.
Gemäß Oevermanns Konzept der Fallstrukturgesetzlichkeit2 lässt sich der Aphorismus als Ausdruck einer Reproduktionslogik verstehen, in der sich ein dialektisches Spannungsverhältnis zwischen Sparsamkeit und Einnahmemangel manifestiert. Die scheinbare Symmetrie der Formulierung verdeckt dabei eine grundlegende Asymmetrie der Handlungsmöglichkeiten unterschiedlicher sozialer Akteure.
Historisch-soziologische Kontextualisierung
Die erste Hälfte des Aphorismus („Reich wird man durch das Geld, das man nicht ausgibt“) korrespondiert mit Max Webers Analyse der protestantischen Ethik,3 in der Sparsamkeit und Verzicht als moralische Tugenden etabliert wurden, die die kapitalistische Akkumulation fördern. Sparen wird hier zur ethischen Handlungsmaxime, durch welche Individuen Reichtum anhäufen.
Demgegenüber reflektiert die zweite Hälfte („arm wird man durch das Geld, das man nicht einnimmt“) eine strukturelle Dimension sozialer Ungleichheit, wie sie Pierre Bourdieu mit seinem Konzept des ökonomischen Kapitals beschreibt.4 Hier manifestiert sich die soziale Ausgrenzung durch fehlende Einnahmemöglichkeiten, eine Barriere, die individuelles Sparverhalten nicht kompensieren kann.
Fallstrukturgesetzlichkeit und Dialektik
Die ökonomische Praxis, die der Aphorismus beschreibt, beruht auf zwei Negationen: dem Nicht-Ausgeben als Bedingung für Vermögensakkumulation und dem Nicht-Einnehmen als Ursache von Armut. Diese Negationen sind jedoch nicht symmetrisch. Das Nicht-Ausgeben setzt voraus, dass bereits Einkünfte vorhanden sind und ist somit ein Handlungsspielraum, der sozialen Status voraussetzt. Das Nicht-Einnehmen hingegen verweist auf strukturelle Ausschlüsse und Mangel an Zugang zu ökonomischen Ressourcen.
In der Folge entsteht eine widersprüchliche Handlungsrationalität: Einerseits wird der Einzelne normativ zur Sparsamkeit und Konsumverzicht angehalten, andererseits bleiben die strukturellen Bedingungen, die den Zugang zu Einkommen verhindern, unbeachtet.5 Diese Spannung korrespondiert mit Oevermanns Analyse der „widersprüchlichen Einheit von Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung“6, welche die Dialektik zwischen individuellem Handeln und gesellschaftlichen Zwängen beschreibt.
Schlussfolgerung
Der Aphorismus illustriert eine komplexe Dialektik ökonomischen Handelns, in der individuelle Strategien der Vermögensbildung untrennbar mit sozialen Strukturen und Ungleichheiten verflochten sind. Die objektiv-hermeneutische Analyse erlaubt es, diese latenten Sinnzusammenhänge zu rekonstruieren und zeigt die Mehrdimensionalität ökonomischer Praxis auf.
Das Spannungsverhältnis zwischen Sparsamkeit als individueller Tugend und der strukturellen Realität sozialer Ausgrenzung offenbart die Grenzen eines rein individualistischen Verständnisses von Vermögenserwerb. Der Aphorismus artikuliert somit sowohl eine moralische Aufforderung als auch eine stille Kritik an gesellschaftlicher Ungleichheit.
Literaturverzeichnis
Footnotes
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Oevermann, U. (2000). Die Fallrekonstruktion. In K. Kraimer (Hrsg.), Die Fallrekonstruktion (S. 58–156). Suhrkamp. ↩
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Oevermann, U. (1991). Genetischer Strukturalismus und Erklärung der Entstehung des Neuen. In S. Müller-Doohm (Hrsg.), Jenseits der Utopie (S. 267–336). Suhrkamp. ↩
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Weber, M. (1904/1905). Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. ↩
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Bourdieu, P. (1983). Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In R. Kreckel (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten (S. 183–198). Schwartz. ↩
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Oevermann, U. (2002). Objektive Hermeneutik als Grundlage der klinischen Soziologie. Manuskript, Institut für hermeneutische Sozial- und Kulturforschung. ↩
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Oevermann, U. (1995). Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung. In Publikation zu methodologischen Konzepten. Unveröffentlichtes Manuskript. ↩