(Erweiterte Fassung fĂŒr den Infologie-Codex)
âInfrastruktur ist der unsichtbare Körper der Kommunikation â und jede Störung ist ein Abdruck seiner Schwere.â
â Dorfzwockel
Dieses Kapitel erweitert die bisherige Architektur des Infologie-Codex um eine grundstÀndige Theorie der Infrastrukturwirkung.
Bisher galt Technik als Hintergrund â als neutrale BĂŒhne, auf der Kommunikation stattfindet.
Die Infologie dreht die Perspektive:
Infrastruktur ist der erste soziale Raum, der das Subjekt erreicht.
Bevor ein Wort entsteht, hat die Infrastruktur bereits entschieden, wie es wirken kann.
Damit schlieĂt dieses Kapitel an die medienökologischen Einsichten McLuhans an (âThe medium is the messageâ),
interpretiert diese aber aus einer infologischen Subjektperspektive neu (McLuhan, 1964).
12.1 Medienökologische Grundannahme
Infrastruktur ist kein Werkzeug, sondern Milieu.
Sie umgibt und durchdringt kommunikative Prozesse, Ă€hnlich dem, was Peters als âelementare Medienâ â Wasser, Luft, Erde â beschreibt,
die nicht nur TrÀger, sondern Bedingungen von Erfahrung sind (Peters, 2015).
Sie ist:
- materiell (Leiter, Spektren, ServerrÀume, Seekabel, Rechenzentren),
- syntaktisch (Protokolle, Adressierungslogiken, Zustandsmaschinen),
- Àsthetisch (Interfaces, Farben, Typografie, Feedbackraten),
- ökonomisch (Plattformprivilegien, API-Limits, Paywalls, EigentumsverhÀltnisse),
- sozial (Normen, Erwartungen, Update-Rituale, Support-Kulturen).
Diese fĂŒnf Schichten bilden eine ökologische TotalitĂ€t,
die das Erleben vorformatiert, bevor Bewusstsein aktiv wird.
MedienarchÀologisch gelesen entspricht dies der Einsicht,
dass technische Medien immer auch Zeit- und Raumordnungen materialisieren
(Parikka, 2012; Zielinski, 2006).
Infrastruktur ist die ökologische Voraussetzung des Denkens im Digitalen â
vergleichbar einer SphĂ€re, in der Subjekte atmen, ohne sie je vollstĂ€ndig zu ĂŒberblicken (Sloterdijk, 1998â2004).
Infologie integriert diese medienökologischen Traditionen in ihre Grundformel:
Information entsteht nur dort, wo Subjekt, Kontext und Reibung zusammenkommen (vgl. Kap. 3 und 5 des Codex).
12.2 Der Einschlag â Technik trifft Subjekt
Der infologische Begriff des Einschlags beschreibt jene Stelle,
an der technische RealitĂ€t und subjektive Wahrnehmung sich berĂŒhren.
Er steht in der NĂ€he von Larkins VerstĂ€ndnis infrastruktureller âEreignisseâ,
die alltÀgliche Erfahrung strukturieren, ohne explizit thematisiert zu werden (Larkin, 2013).
WĂ€hrend klassische Medientheorie oft beim âKanalâ bleibt,
fragt die Infologie nach dem Moment der BerĂŒhrung:
Wo und wie trifft Infrastruktur das Subjekt?
Typen des Einschlags
1) Zeitlicher Einschlag
Takt, Latenz, Jitter â GefĂŒhl von NĂ€he, Druck oder Unsicherheit.
âEchtzeitâ ist keine natĂŒrliche Kategorie, sondern das Resultat infrastruktureller Entscheidungen
(z. B. Priorisierung von Streams, QoS, Push-Logik).
2) Struktureller Einschlag
Protokolle, ZustĂ€nde, Limits â Formen des Sagbaren.
Galloway beschreibt Protokolle als unsichtbare Infrastruktur der Kontrolle â
sie entscheiden, welche Pakete akzeptiert, verzögert oder verworfen werden (Galloway, 2004).
Infologisch ĂŒbersetzt: Sie definieren die Form der Möglichkeit von Aussage.
3) Ăsthetischer Einschlag
Icons, Harmonik, Animationen â Bedeutung durch Stil.
Chun zeigt, wie Software-OberflÀchen nicht nur Funktionen,
sondern auch Vorstellungen von HandlungsfÀhigkeit inszenieren (Chun, 2011).
Das âLook and Feelâ greift direkt in das SelbstverstĂ€ndnis der Nutzenden ein.
4) Ăkonomischer Einschlag
Zentralisierung, Paywalls, AbhĂ€ngigkeiten â Sichtbarkeitsmacht.
Infrastrukturen sind eingebettet in das, was Zuboff als Ăberwachungskapitalismus beschreibt:
Wertschöpfung durch Kontrolle von Datenströmen (Zuboff, 2019).
Wer die Infrastruktur besitzt, besitzt die Optionen auf Sichtbarkeit.
5) Sozialer Einschlag
Normen, Rituale, Interface-Konventionen â Einbettung und Verhalten.
Habermasâ Theorie kommunikativen Handelns verweist darauf,
dass VerstÀndigung immer an geteilte Erwartungen und Rollen gebunden ist (Habermas, 1981).
Digitale Infrastruktur kodiert diese Erwartungen in technische Defaults.
Infrastruktur ist kein Kanal â sie ist ein Ereignis.
Jeder Einschlag ist ein Mikroereignis, in dem Technik in Leben ĂŒbergeht.
12.3 Die Resonanzmaschine
Kommunikation entsteht erst dort, wo Infrastruktur nicht vollstÀndig glÀttet,
sondern Raum fĂŒr Resonanz lĂ€sst.
Rosa beschreibt Resonanz als eine Beziehung,
in der Subjekt und Welt sich wechselseitig berĂŒhren und verwandeln (Rosa, 2016).
Infologisch erweitert diese Formel:
Resonanz ist nur möglich, wenn die Infrastruktur nicht alle Differenzen neutralisiert.
Resonanz entsteht durch:
- Zeitliche ElastizitÀt (kein permanenter Push-Imperativ, asynchrone Toleranz),
- Dezentrale Offenheit (freie Protokolle, föderierte Netze, lokale Dienste),
- InterpretationsrĂ€ume (nicht ĂŒberoptimierte Interfaces, Lesbarkeit statt reiner Effizienz),
- Reparierbarkeit (zugÀngliche Schichten, dokumentierte Standards, Community-Support),
- Sichtbarkeitsgerechtigkeit (keine intransparente algorithmische Verzerrung).
Damit schlieĂt die Infologie an Castellsâ Analysen von Netzwerkgesellschaften an,
geht aber ĂŒber deren Systemfokus hinaus, indem sie das Erleben im Netz
als eigenstÀndige epistemische Kategorie fasst (Castells, 2010).
Resonanz ist ein ökologischer Zustand, kein technischer.
Sie ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Material, Syntax, sozialer Praxis und subjektiver Deutung.
12.4 Protokollanthropologie
Protokolle sind soziale VertrÀge in Syntaxform.
Sie regeln Adressierung, ZustĂ€nde, Fehlerbehandlung, PrioritĂ€t â
und damit die konkrete Form von Gegenwart, Zukunft und GedÀchtnis im Netz.
Galloway beschreibt Protokolle als paradoxes Regime,
in dem Kontrolle durch verteilte Strukturen ausgeĂŒbt wird (Galloway, 2004).
Eine âProtokollanthropologieâ im Sinne der Infologie fragt:
- Welche Menschenbilder sind in Protokollen eingeschrieben
(z. B. Annahmen ĂŒber ZuverlĂ€ssigkeit, Vertrauen, Fehlertoleranz)? - Welche Zeitmodelle werden codiert (Polling vs. Push, TTL, Timeouts)?
- Welche sozialen Rollen (Client/Server, User/Admin, Sender/EmpfÀnger)?
SMTP, IMAP, HTTP, ActivityPub, XMPP â
all diese Standards bestimmen:
- wer teilnehmen darf,
- wie Geschwindigkeit verhandelt wird,
- welche Fehler erlaubt sind,
- wie Sichtbarkeit entsteht,
- und welche Formen sozialer Wirklichkeit möglich sind.
Parks und Starosielski haben gezeigt,
dass Medieninfrastrukturen immer auch politische und kulturelle Artefakte sind
(Parks & Starosielski, 2015).
Die Protokollanthropologie der Infologie macht diesen Befund fĂŒr die Mikroebene des Erlebens fruchtbar.
Ein Protokoll ist eine anthropologische Konfiguration â keine neutrale Maschine.
12.5 Störung als Erkenntnis
Störung ist in der Infologie kein Defekt,
sondern die einzige Stelle, an der Infrastruktur sichtbar wird.
Larkin spricht von der âPoetik der Infrastrukturâ â
die Momente des Ausfalls und der Ăberlastung geben preis,
was im Normalbetrieb unsichtbar bleibt (Larkin, 2013).
Störungen weisen auf:
- GrenzverlÀufe (zwischen ZustÀndigkeiten, Layern, ZustÀnden),
- Machtfaktoren (wer entscheidet, was priorisiert oder verworfen wird),
- Zeitmodi (wo âEchtzeitâ endet und Warteschlange beginnt),
- semantische Belastungen (wo Bedeutungsdichte zu Ăberlast fĂŒhrt),
- soziale Ungleichheiten (wer sich AusfÀlle leisten kann, wer nicht).
Im Anschluss an Kuhn und Popper lÀsst sich Störung als
Mini-Paradigmenkrise im Alltag begreifen:
Sie zwingt zur Revision von SelbstverstÀndlichkeiten (Kuhn, 1962; Popper, 1959).
Perfektion ist epistemisch wertlos.
Störung ist Bedeutung.
Denn nur dort, wo etwas nicht reibungslos funktioniert,
wird sichtbar, wie tief Infrastruktur bereits in das Erleben eingreift.
12.6 Infrastruktur und Macht
Mediale Infrastruktur ist Macht in drei Formen:
(A) Ontologische Macht
Sie definiert, was ĂŒberhaupt âerscheinenâ kann.
Welche Protokolle implementiert sind,
welche Dateitypen unterstĂŒtzt,
welche AdressrĂ€ume offenstehen â
all dies legt fest, welche Praxis ĂŒberhaupt denkbar ist.
(B) Temporale Macht
Sie bestimmt, wann etwas als gĂŒltig gilt (Takt, Update, Refresh-Zyklen).
Benachrichtigungssysteme legen fest,
welche Ereignisse das Subjekt als âdringendâ erlebt (Tufekci, 2015).
(C) Soziale Macht
Sie regelt, wer sichtbar wird und wer verschwindet.
Zuboff beschreibt, wie Plattformen VerhaltensĂŒberschĂŒsse abschöpfen,
um zukĂŒnftiges Verhalten zu steuern (Zuboff, 2019).
Infrastrukturelle Sichtbarkeit ist damit eine zentrale Achse der Macht
(vgl. auch Han, 2012; Zuboff, 2019).
Nicht âContentâ entscheidet soziale Wirklichkeit,
sondern die Form der technischen Realisierung:
Architekturen der Sichtbarkeit (vgl. Kap. 4 des Codex).
12.7 Systemische Tiefenstruktur
Infrastruktur trÀgt eine tiefe, unsichtbare Ontologie.
Sie erzeugt:
- ZeitgefĂŒhle (Echtzeit, Verzögerung, âLagâ),
- WertgefĂŒhle (VerlĂ€sslichkeit, Abbruch, Vertrauensverlust),
- KörpergefĂŒhle (Haptik, Feedback, Scroll- und Swipe-Rhythmen),
- GemeinschaftsgefĂŒhle (PrĂ€senz, Echo, Stille).
Sloterdijks SphÀren-Theorie hilft,
Infrastruktur als raumkonstituierende SphÀre zu denken:
Menschen leben nicht nur in physischen,
sondern auch in medial-infrastrukturellen HĂŒllen (Sloterdijk, 1998â2004).
Diese GefĂŒhle werden selten reflektiert,
aber sie bilden die prÀ-semantische Basis jeder Information.
Infologie insistiert darauf, diese Tiefenstruktur
nicht als âneutralen Hintergrundâ abzutun,
sondern als epistemische Mitautorin jeder Kommunikation.
12.8 Normative Setzungen der Infologie
Auf Grundlage der vorherigen Analysen ergeben sich
infologische Normative der Infrastruktur:
(1) Infrastruktur muss offen sein
Nicht nur lizenzrechtlich, sondern bedeutungsoffen:
Protokolle, Dokumentation und Schnittstellen mĂŒssen so gestaltet sein,
dass neue Formen von Praxis und Sinn entstehen können (vgl. Kuhlen, 2004).
(2) Infrastruktur muss Reibung zulassen
GlÀttung tötet Bewusstsein.
Wo alles âfriktionslosâ funktioniert,
gibt es keine AnlÀsse zur Kritik,
keine Marker fĂŒr Verantwortung und Fehler.
(3) Infrastruktur muss reparierbar sein
Eine Gesellschaft ohne Reparatur ist epistemisch blind.
MedienarchÀologie zeigt,
dass Reparaturpraktiken immer auch
Wissenspraktiken sind (Parikka, 2012).
(4) Infrastruktur muss öffentlich sein
Bedeutung kann nicht privatisiert werden.
Eine demokratische Ăffentlichkeit setzt voraus,
dass die Medien ihrer Zirkulation
nicht vollstÀndig privatwirtschaftlich kontrolliert werden
(Habermas, 1981; Zuboff, 2019).
(5) Infrastruktur muss Vielfalt zulassen
Monokulturen erzeugen Stille â
und Stille ist keine Resonanz.
Netzwerkkulturen brauchen HeterogenitÀt von Protokollen,
Architekturen und Organisationsformen,
damit ĂŒberhaupt Konflikt, Kritik und Lernen möglich bleiben
(Castells, 2010; Rosa, 2016).
12.9 Formale Kurzformel
Infrastruktur =
Materie Ă Syntax Ă Ăsthetik Ă Ăkonomie Ă Sozialform
â Einschlag im Subjekt
â Resonanzfeld oder Rauschzone
â Bedingung der Möglichkeit von InformationDiese Formel fasst den Status der Infrastruktur im Rahmen des Infologie-Codex zusammen:
Sie ist nicht bloĂ Mittel (Instrument),
sondern Bedingung (Milieu)
und damit stets Teil der Arbeit am Unterschied zwischen Information, Wissen, Glaube und Meinung (vgl. Kap. 9).
đ Inline-KIQ-Siegel (Orange) â Extended Version
---đĄ Einschlagsmatrix â 5Ă5-Feld
(Infologische Erweiterung, Kapitel 12)
Die Einschlagmatrix ordnet fĂŒnf Infrastrukturschichten (Materie · Syntax · Ăsthetik · Ăkonomie · Sozialform) den fĂŒnf Einschlagstypen (Zeitlich · Strukturell · Ăsthetisch · Ăkonomisch · Sozial) in einer resonanztheoretischen Kreuzstruktur zu.
Jede Zelle markiert eine Stelle der Verletzlichkeit, einen Punkt, an dem technische RealitĂ€t das Subjekt trifft und Bedeutung erzeugt â oder Rauschen.
đ§ Deutung: Die Matrix als Resonanzdiagramm
Die Matrix zeigt:
Diagonal 1 (Materie â Sozial) Die physische Infrastruktur prĂ€gt soziale Positionen (z. B. ZugĂ€nge, Bandbreiten, GerĂ€teklassen).
Diagonal 2 (Zeitlich â Sozialform) ZeitgefĂŒhl ist sozial normiert â und technologisch erzeugt (Push-Rhythmen, Response-Erwartungen, âAvailabilityâ-Normen).
Horizontale Drift (Materie â Syntax â Ăsthetik) Je höher die Schicht, desto subtiler der Einschlag â desto stĂ€rker aber die Wirkung auf Wahrnehmung und Bedeutung.
Zentrum = RISS Der Punkt, an dem ein Einschlag zur Erkenntnis wird. Der Riss ist nicht Defekt, sondern epistemischer Lichthof: Hier zeigt sich, dass Infrastruktur nicht abgeschlossen ist, sondern offen fĂŒr Kritik, Umbau und andere ZukĂŒnfte.
đ Literatur (APA, Auswahl)
Castells, M. (2010). The Rise of the Network Society (2. Aufl.). Wiley-Blackwell.
Chun, W. H. K. (2011). Programmed Visions: Software and Memory. MIT Press.
Dorfzwockel. (2025). Infologie â Codex Full (annotiert, APA 7). Zenodo. https://doi.org/10.5281/zenodo.17394280
Galloway, A. R. (2004). Protocol: How Control Exists After Decentralization. MIT Press.
Habermas, J. (1981). Theorie des kommunikativen Handelns (2 Bde.). Suhrkamp.
Han, B.-C. (2012). Transparenzgesellschaft. Matthes & Seitz.
Kuhn, T. S. (1962). The Structure of Scientific Revolutions. University of Chicago Press.
Kuhlen, R. (2004). Informationsethik. Humboldt-UniversitÀt zu Berlin. https://doi.org/10.17169/refubium-15768
Larkin, B. (2013). The politics and poetics of infrastructure. Annual Review of Anthropology, 42, 327â343.
McLuhan, M. (1964). Understanding Media: The Extensions of Man. McGraw-Hill.
Parks, L., & Starosielski, N. (Hrsg.). (2015). Signal Traffic: Critical Studies of Media Infrastructures. University of Illinois Press.
Parikka, J. (2012). What is Media Archaeology? Polity Press.
Peters, J. D. (2015). The Marvelous Clouds: Toward a Philosophy of Elemental Media. University of Chicago Press.
Popper, K. R. (1959). The Logic of Scientific Discovery. Routledge.
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Sloterdijk, P. (1998â2004). SphĂ€ren IâIII. Suhrkamp.
Tufekci, Z. (2015). Algorithmic harms beyond Facebook and Google: Emergent challenges of computational agency. Colorado Technology Law Journal, 13(1), 203â218.
Zielinski, S. (2006). Deep Time of the Media: Toward an Archaeology of Hearing and Seeing by Technical Means. MIT Press.
Zuboff, S. (2019). The Age of Surveillance Capitalism. PublicAffairs.