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Freiheit als Einsicht in die Sichtbarkeit: Subjektivierung im Spiegel staatlicher Kontrolle

Einleitung

„Sehen und gesehen werden, gehen und gegangen werden. Ein Tausch, der nie ganz aufgeht.“ – Das poetische Fragment entwirft eine Choreografie von Blicken, Bewegungen und Bedeutungen, die sich im Kontext staatlicher Überwachung radikal zuspitzt. Die asymmetrische Dynamik von Beobachtung und ErzĂ€hlt-Werden spiegelt die politische RealitĂ€t eines totalitĂ€ren Überwachungsregimes, hier konkretisiert im historischen Setting der DDR 1988. Zugleich evoziert der Text eine tiefere, philosophische Frage: Was heißt Freiheit, wenn das Subjekt unausweichlich Teil des Blickregimes ist?

Im Zentrum dieser Reflexion steht Hegels Diktum: „Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit“ (Hegel, 1821/1986, §15). Die folgende Analyse interpretiert den poetischen und dokumentarischen Textbestand im Licht hegelscher Freiheitsphilosophie und foucaultscher Machtanalyse. Dabei zeigt sich: Selbst unter Bedingungen repressiver Kontrolle eröffnet sich ein Raum reflexiver Subjektivierung – nicht jenseits, sondern innerhalb der Notwendigkeit gesehen zu werden.

Sichtbarkeit als Bedingung: Zwischen Kontrolle und ErzÀhlung

Das Fragment eröffnet mit einem doppelt gerichteten Blick: „Sehen und gesehen werden“. Diese Konstellation erinnert an Foucaults (1975/1994) Analyse panoptischer MachtverhĂ€ltnisse, in denen Sichtbarkeit zur Disziplinierung dient. Doch der Text durchkreuzt diese Ordnung: „Wer geht, wird erzĂ€hlt.“ Sichtbarkeit ist hier nicht nur Kontrolle, sondern auch Narrativisierung – das Subjekt wird nicht ausgelöscht, sondern dokumentiert, protokolliert, erzĂ€hlt.

Diese Ambivalenz zeigt sich exemplarisch im Kommentar aus einem Beobachtungsbericht der Volkspolizei: „Subjekt zeigte auffĂ€lliges Verhalten: wiederholte Blicke zurĂŒck. Möglicher Versuch, sich der Kontrolle zu entziehen.“ Der RĂŒckblick des Subjekts kann einerseits als Indikator von Angst gedeutet werden – doch andererseits auch als reflexiver Akt: ein Moment der Selbstvergewisserung inmitten des Blicks der Macht.

Hegels Freiheitsbegriff: Anerkennung der Notwendigkeit

Hegel (1821/1986) versteht Freiheit nicht als bloße Abwesenheit von Zwang, sondern als vermittelte Einsicht in das Notwendige. Das Subjekt gewinnt seine Freiheit nicht durch Verweigerung, sondern durch Anerkennung und Durchdringung der Bedingungen seiner Existenz. Im Kontext des Fragments heißt das: Die Sichtbarkeit – so asymmetrisch und potenziell gewaltförmig sie sein mag – ist auch ein Ort der Subjektwerdung.

Die im Fußnotenkommentar dokumentierte operative Strategie der MfS – „Die Unterscheidung zwischen Beobachter und Beobachtetem wurde im operativen Vorgang aufgehoben“ – unterstreicht diese Dialektik: Wenn alle Beteiligten protokolliert werden, wird das System selbst sichtbar. Beobachtung kehrt sich um, Disziplinierung wird zur Selbstbeschreibung. Hier eröffnet sich ein Moment, das Hegel als „Aufhebung“ bezeichnen wĂŒrde: Die Notwendigkeit der Sichtbarkeit verliert ihren absoluten Zwangscharakter und wird zum reflexiven Medium.

Asymmetrie des Verstehens: Freiheit im Modus des UnvollstÀndigen

Der Schlusssatz des Fragments – „Verstehen bleibt ein asymmetrischer Blick: nie ganz freiwillig, nie ganz vollstĂ€ndig.“ – verweist auf die strukturelle UnvollstĂ€ndigkeit jedes Aneignungsversuchs. In hegelschem Sinne bedeutet dies: Die Einsicht in die Notwendigkeit ist kein einmaliger Akt, sondern ein Prozess. Freiheit ist nie total – sie ist immer vermittelt, gebrochen, fragmentarisch.

Die poetisch-philosophische Übersetzung – „‚Gesehen werden‘ als Form der Macht – aber auch der Bitte: Erkenne mich, ohne mich zu fassen“ – markiert eine Schwelle zwischen Kontrolle und Anerkennung. Sichtbarkeit erscheint hier nicht nur als Objektivierung, sondern auch als subjektive Anrufung (vgl. Althusser, 1971): Das Subjekt bittet um Anerkennung, nicht um völlige Durchdringung. Es bleibt ein Rest – ein Nicht-Verstehbares, das nicht aufgeht im Blick der Macht.

Fazit: Freiheit im Fragment

Die Analyse zeigt: Freiheit erscheint nicht jenseits der Überwachung, sondern im Fragment selbst – in der poetischen Brechung von Kontrolle, der Dialektik von Blick und RĂŒckblick, ErzĂ€hlen und ErzĂ€hlt-Werden. In hegelschem Sinn ist dies keine bloß negative Freiheit, sondern eine reflexive, die in der Einsicht in die Notwendigkeit der Sichtbarkeit entsteht. Das Fragment spricht nicht von Flucht, sondern von Durchgang – und lĂ€sst so ein politisches Denken der Freiheit entstehen, das sich nicht ĂŒber, sondern durch die Bedingungen seiner Zeit versteht.

Literaturverzeichnis

Althusser, L. (1971). Ideology and ideological state apparatuses. In Lenin and Philosophy and Other Essays (pp. 127–186). Monthly Review Press.

Foucault, M. (1994). Disziplin und Strafe: Die Geburt des GefĂ€ngnisses (9. Aufl., F. Kaulbach, Übers.). Suhrkamp. (Originalarbeit veröffentlicht 1975)

Hegel, G. W. F. (1986). Grundlinien der Philosophie des Rechts (E. Moldenhauer & K. M. Michel, Hrsg.). Suhrkamp. (Originalarbeit veröffentlicht 1821)