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Analyse zu Robert Habecks These der fragmentierten Gesellschaft

Zum 1. September 2025 erklĂ€rte Robert Habeck seinen RĂŒcktritt von allen politischen Ämtern. In seiner Abschiedsrede betonte er die „Fragmentierung der Gesellschaft“ und sprach von einer Entzauberung des politischen Raums: Die „Mitte“ sei nicht lĂ€nger verbindender Boden, sondern ein Kampfplatz semantischer Besetzungen. Diese Diagnose verweist auf zentrale Motive spĂ€tmoderner Gesellschaftsanalyse.


1. Post-adornosche Fragmentierung

Adorno (1966) beschrieb den Kapitalismus als „verwaltete Welt“, die Differenzen nivelliert. In der Gegenwart zeigt sich das Gegenteil: Hyperdifferenzierung zersplittert den gesellschaftlichen Zusammenhang. PhĂ€nomene wie digitale Echokammern und identitĂ€re Nischenmilieus erzeugen ein „Rad der Selbstoptimierung“, in dem Subjekte – wie Han (2010) formuliert – als „Eichhörnchen“ beschĂ€ftigt sind, ihre partikularen Interessen zu hamstern.


2. Habermas’ gescheiterter Diskurs

Habermas (1981) sah im „herrschaftsfreien Diskurs“ das verbindende Medium moderner Demokratien. Heute jedoch dominieren asymmetrische Debatten, in denen Partikularinteressen als Gemeinwohl maskiert werden. Beispiele sind:

Der Diskurs verkommt damit zum Schaukampf, dessen Ergebnis weniger VerstÀndigung als symbolischer Sieg ist.


3. Marx reloaded: Materielle Interessenlogik

Die von Habeck beschriebene „rhetorisch beschworene Gemeinsamkeit“ erinnert an Marx’ (1867/1972) Analyse des „falschen Bewusstseins“. In der Krise obsiegt stets die Besitzstandswahrung.

Ein prominentes Beispiel ist der CO₂-Preis: Zum 1. Januar 2025 wurde er von 45 € auf 55 € pro Tonne CO₂ angehoben – dies entspricht ca. 3 Cent pro Liter Benzin bzw. Diesel (ADAC, 2025). Bereits zum Jahreswechsel 2023/24 fĂŒhrte die Erhöhung von 30 € auf 45 € zu Mehrkosten von rund 4–5 Cent pro Liter (BILD, 2024).

Parallel wurde von Juni bis August 2022 der sogenannte Tankrabatt eingefĂŒhrt: Die Energiesteuer auf Benzin sank um etwa 29,55 Cent, auf Diesel um 14,04 Cent pro Liter (Wikipedia, 2022).

Interpretation: Diese Beispiele illustrieren Habecks Diagnose: Die vermeintlich rationalen, abstrakten Instrumente (CO₂-Preise) treffen im Alltag auf massive konkrete Betroffenheit – die sprichwörtliche Tankstelle wird zum Schauplatz materialisierter Partikularinteressen. Gleichzeitig zeigt der Tankrabatt: Kurzfristige ökonomische Reflexe dominieren die Logik langfristiger Gemeinwohlorientierung.


4. Gegenbewegungen

Ein prĂ€gnantes Beispiel ist die Überschwemmungskatastrophe im Ahrtal (Juli 2021). Das Kunstwort „SolidAHRitĂ€t“ wurde zum Symbol der Hilfsbereitschaft und von der Gesellschaft fĂŒr deutsche Sprache zum Wort des Jahres gekĂŒrt (Wikipedia, 2021). Zahlreiche zivilgesellschaftliche Akteure organisierten Soforthilfe und Wiederaufbauprojekte im Millionenvolumen (arche-nova, 2022).

Interpretation: Diese Dynamik bestĂ€tigt die zutiefst sozialpsychologische Beobachtung: Ein „Wir“ entsteht oft nur im Ausnahmezustand. Habecks Hinweis auf Katastrophen-SolidaritĂ€t zeigt, wie gemeinschaftliche Verbundenheit situativ aufblitzt – im Gegensatz zum fragmentierten Alltag, in dem solche SolidaritĂ€t kaum dauerhaft etabliert werden kann.


5. Wilbers Quadranten und ihre Hierarchie

Wilber (2000) unterscheidet vier Dimensionen:

  1. UL – Individuell-interior (Bewusstsein, Werte)
  2. LL – Kollektiv-interior (Kultur, Sinnhorizonte)
  3. UR – Individuell-exterior (materielle BedĂŒrfnisse)
  4. LR – Kollektiv-exterior (Systeme, MĂ€rkte)

Obwohl Wilber diese Dimensionen gleichzeitige Aspekte nennt, folgt ihre ontogenetische Integration einer Sequenz: Von der inneren Bewusstseinsbildung (UL) ĂŒber kulturelle Einbettung (LL) zu materiellen Praktiken (UR) und schließlich systemischen Strukturen (LR).


6. Habecks Blindstelle

Habeck sieht die Dominanz lebensweltlich-materieller Eigeninteressen. Diese resultiert jedoch aus der VernachlÀssigung der UL/LL-Quadranten:


7. Kant-Bezug

Kants Philosophie verdeutlicht diese innere Voraussetzung:

„Ohne den Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen (UL),
bleibt der kategorische Imperativ ein leeres GerĂŒst –
wie ein Schiff, gebaut im Binnenland, das nie die See erfĂ€hrt.“


8. Fazit

Mit Brecht (1941/1967) lĂ€sst sich schließen:
„UnglĂŒcklich das Land, das Helden nötig hat.“
Habecks Diagnose legt nahe: UnglĂŒcklich ist das Land, das nur noch „Heldengruppen“ kennt – und keinen Chor mehr.

Die Herausforderung besteht darin, keine neuen Mythen der Einheit zu entwerfen, sondern konfliktoffene Vermittlungsarenen zu schaffen, in denen Partikularinteressen nicht verschwinden, sondern verhandelbar bleiben.


Literatur (APA-Style, exemplarisch)