Eine Adorno/Horkheimer-LektĂŒre im digitalen Zeitalter
Einleitung
Die kritische Theorie der Frankfurter Schule beschrieb in den 1940er Jahren Mechanismen, mit denen kapitalistische ProduktionsverhĂ€ltnisse in autoritĂ€re Herrschaftsformen ĂŒbergehen konnten. Horkheimer und Adorno (1944/2002) konstatierten, dass die âKulturindustrieâ bereits eine Form der Disziplinierung hervorbringe, die physische Gewalt ĂŒberflĂŒssig erscheinen lasse. Diese These gewinnt im Kontext algorithmischer Filterblasen und oligarchisch organisierter Plattformökonomien neue AktualitĂ€t.
Von der Gleichschaltung zum Gleichschritt
WĂ€hrend die nationalsozialistische Gleichschaltung durch staatliche Befehle und offene Gewalt funktionierte, etabliert sich heute ein intellektueller Gleichschritt:
- Algorithmische Filterblasen homogenisieren Diskurse.
- Ranking-Mechanismen und ökonomische Anreizsysteme erzeugen KonformitÀtsdruck.
- Globale Plattformkonzerne steuern Sichtbarkeit und AnschlussfÀhigkeit.
Damit entsteht eine Form der Unterordnung, die ohne Zwangsapparat auskommt, aber dennoch faktisch die Autonomie sozialer Institutionen beschrÀnkt (Zuboff, 2019).
Der âwirtschaftsfaschistische Habitusâ
Unter RĂŒckgriff auf Bourdieus Habitus-Konzept lĂ€sst sich dieser Zustand als âwirtschaftsfaschistischer Habitusâ beschreiben:
- Faschistisch, insofern eine Totalisierung des Denk- und Handlungshorizonts stattfindet, die alternative Lebensformen delegitimiert.
- Wirtschaftlich, weil nicht mehr der Staat, sondern kapitalistische Oligopole die Disziplinierung betreiben.
- Habituell, weil die Muster nicht als Ausnahme erscheinen, sondern als selbstverstÀndliche NormalitÀt verinnerlicht werden.
Wie Adorno (1966/1973) formulierte: âDie Gewalt lebt fort im Gehorsam derjenigen, die sie nicht mehr zu sehen meinenâ (S. 270).
Erinnerung und Entzug
Die subtilen Mechanismen entziehen sich der kritischen Erinnerung:
- Keine marschierenden Uniformen, sondern Codes und Interfaces.
- Keine Zensurbehörden, sondern algorithmische Gewichtung.
- Keine physischen SchlÀge, sondern soziale Unsichtbarmachung.
So wird Gewalt nicht aufgehoben, sondern transformiert. Sie erscheint als âZwang zur Anpassungâ (Horkheimer, 1939/1989), der sich aus Marktlogiken ergibt.
Fazit
Die Diagnose von Horkheimer und Adorno bleibt erschreckend aktuell: Faschismus ĂŒberlebt nicht in der Form des politischen Totalitarismus, sondern in fein verteilten, ökonomisch gesteuerten Disziplinierungen, die sich dem historischen GedĂ€chtnis entziehen. Der âwirtschaftsfaschistische Habitusâ beschreibt diesen Ăbergang prĂ€zise: TotalitĂ€t ohne Terror, NormalitĂ€t ohne Befreiung.
Literatur
- Adorno, T. W. (1973). Negative Dialektik. Frankfurt/M.: Suhrkamp. (Orig. 1966)
- Horkheimer, M. (1989). Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Frankfurt/M.: Fischer. (Orig. 1939)
- Horkheimer, M., & Adorno, T. W. (2002). Dialektik der AufklÀrung (15. Aufl.). Frankfurt/M.: Fischer. (Orig. 1944). https://doi.org/10.5840/zfsw19447112
- Zuboff, S. (2019). The age of surveillance capitalism: The fight for a human future at the new frontier of power. New York: PublicAffairs. https://doi.org/10.1177/0308518X19842918
đ Schlussfrage:
Wie lÀsst sich Widerstand organisieren, wenn die Gewalt nicht mehr sichtbar ist, sondern in Routinen und Interfaces sedimentiert?
Gleichschritt ohne Gleichschaltung?

Zur Transformation von Autonomie im Zeitalter oligarchischer Filterblasen
1. Einleitung
Die Rede von âGleichschaltungâ trĂ€gt eine historische Last: Sie verweist auf die unmittelbare, staatlich verordnete Unterordnung von Institutionen im Nationalsozialismus. Heutige Diagnosen ĂŒber digitale Ăffentlichkeiten benötigen eine andere analytische PrĂ€zision: Denn es gibt keine explizite Verordnung, aber dennoch eine praktische Homogenisierung des Diskurses, die faktisch dieselbe Wirkung entfalten kann.
2. Strukturelle Verschiebung: Von Befehl zu Plattform
- Historisch: Gleichschaltung bedeutete direkte Eingriffe in Vereine, Medien, Wissenschaft.
- Gegenwart: Filterblasen organisieren KonformitĂ€t ĂŒber algorithmische Auswahlprozesse.
- Kontrollzentren: Nicht nationale Ministerien, sondern private Plattformkonzerne, ĂŒberwiegend US-amerikanische Oligopole.
Damit verschiebt sich die TrÀgerstruktur von Macht: von politisch-staatlich zu ökonomisch-plattformförmig.
3. Intellektueller Gleichschritt
Die Homogenisierung Ă€uĂert sich nicht in Zensur, sondern in Aufmerksamkeitskanalisierung:
- Ranking-Algorithmen setzen PrioritĂ€ten fĂŒr Sichtbarkeit.
- Feedback-Mechanismen (Likes, Shares) schaffen Anpassungsdruck.
- Ăkonomische Interessen (Werbemodelle, Datenernte) definieren den Horizont des Sagbaren.
Das Resultat ist eine intellektuelle Gleichrichtung, die ohne formelle Verbote auskommt.
4. Oligarchische Dimension
Die Filterarchitekturen sind Eigentum weniger globaler Akteure (Meta, Alphabet, Amazon, Microsoft, Apple, TikTok/Bytedance).
- Kontrolle liegt nicht bei demokratischen Institutionen.
- Governance-Strukturen sind intransparent und primÀr renditeorientiert.
- Nationale Parlamente bleiben abhÀngig von Selbstverpflichtungen und schwacher RegulierungsfÀhigkeit.
So entsteht eine transnationale Machtkonzentration, die das klassische Muster der Gleichschaltung ersetzt, ohne es zu benötigen.
5. Theoretischer Rahmen
- Luhmann (1969): Verfahren als Legitimationsressource â hier ersetzt durch algorithmische âBlack Boxâ.
- Habermas (1962): Ăffentlichkeit als deliberativer Raum â ersetzt durch segmentierte Echokammern.
- Crouch (2008): Postdemokratie â politische Institutionen formal intakt, aber real sekundĂ€r gegenĂŒber Marktlogiken.
- Zuboff (2019): Ăberwachungskapitalismus â Datenerhebung als Fundament neuer MachtausĂŒbung.
6. Fazit
Die Diagnose lautet: Es braucht keine Gleichschaltung mehr, wenn der Gleichschritt bereits im Code implementiert ist.
- Institutionen und Vereine wirken frei, sind aber in algorithmische Selektionsmechanismen eingespannt.
- Autonomie erscheint formal intakt, wird jedoch faktisch durch Oligarchen kontrolliert, die die Bedingungen von Sichtbarkeit und AnschlussfÀhigkeit definieren.
- Damit verschiebt sich die Bedrohung von Repression zu Disposition: nicht das Verbot, sondern die Gewichtung strukturiert den Raum des Denkbaren.
đ Literaturhinweise
- Crouch, C. (2008). Postdemokratie. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
- Habermas, J. (1962). Strukturwandel der Ăffentlichkeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
- Luhmann, N. (1969). Legitimation durch Verfahren. Neuwied: Luchterhand.
- Zuboff, S. (2019). The Age of Surveillance Capitalism. New York: Public Affairs.
AutoritĂ€re Marktordnung und âwirtschaftsfaschistischer Habitusâ

Ein akademischer Versuch
1. BegriffsklĂ€rung Der Ausdruck wirtschaftsfaschistischer Habitus ist provokant und metaphorisch, er lĂ€sst sich aber analytisch zuspitzen, wenn man ihn als Indikator fĂŒr die Verschmelzung ökonomischer und politischer Zwangslogiken versteht. WĂ€hrend klassischer Faschismus auf totalitĂ€re Staatsmacht und paramilitĂ€rische Gewalt setzte, beschreibt der Begriff hier die Normalisierung autoritĂ€rer Steuerungspraktiken durch Marktinstrumente. Habitus bedeutet in Bourdieus Sinn ein eingeĂŒbtes, inkorporiertes Muster â also nicht bloĂ eine MaĂnahme, sondern eine Haltung, die sich veralltĂ€glicht.
2. Politische Ăkonomie der Altersvorsorge Kapitalgedeckte Altersvorsorge wird von politischen Eliten oft als âzukunftssicherâ dargestellt. Dabei ist zentral:
- Exklusionseffekt: Wer ĂŒber kein verfĂŒgbares Einkommen verfĂŒgt, kann nicht vorsorgen.
- Risikotransfer: Risiken der KapitalmÀrkte werden kollektiv politisch legitimiert, aber individuell getragen.
- Doppelte NormativitĂ€t: Einerseits gilt es als Pflicht zur Eigenverantwortung, andererseits wird das System staatlich gefördert (Steuererleichterungen, ZuschĂŒsse).
Das erzeugt einen doppelten Zwang: Wer nicht einzahlt, verliert Anschluss an politische LegitimitÀt; wer einzahlt, trÀgt das Anlagerisiko.
3. AutoritÀre Marktordnung als Rahmen Aus den Indikatoren lÀsst sich ableiten:
- Dauerhafte Kopplung von Marktsteuerung und Sanktionsapparat (Jobcenter, Rentenrecht).
- Fehlende aufschiebende Rechtsmittel: Verluste am Markt sind nicht einklagbar, die Pflicht zur Vorsorge bleibt.
- Externe Kontrolle schwach: Parlamente und Rechnungshöfe haben begrenzte Mittel, private Fondslogiken zu durchleuchten.
Damit entsteht eine âautoritĂ€re Marktordnungâ: Nicht offene Repression, sondern struktureller Zwang unter dem Deckmantel von Wahlfreiheit.
4. Habitusförmigkeit Im Alltagsdiskurs (Talkshows, Ministerreden, Versicherungswerbung) wird die Kopplung als ânormalâ dargestellt:
- Altersvorsorge = Eigenverantwortung
- Kapitalmarkt = Zukunftssicherung
- Zweifel = Unvernunft / RĂŒckstĂ€ndigkeit
Diese Rhetorik produziert einen Habitus der Alternativlosigkeit. Die gesellschaftliche Mehrheit, die âam Ende des Geldes noch Monat ĂŒbrig hatâ, wird rhetorisch ausgeblendet â obwohl sie empirisch zentrale Gruppe ist.
5. Fazit Man kann also akademisch sagen: Von Faschismus im engeren historischen Sinn ist nicht zu sprechen. Doch als wirtschaftsfaschistischer Habitus lÀsst sich eine diskursive und institutionelle Praxis markieren, in der
- soziale Mehrheiten ignoriert,
- kapitalistische RisikoĂŒbertragungen naturalisiert,
- und politische LegitimitÀt auf Marktlogik verengt werden.
Dies ist kein politischer Faschismus, wohl aber ein autoritÀres Syndrom, das in Bourdieuscher Perspektive habituell, in Luhmannscher Perspektive prozedural und in Streeckscher Perspektive makroökonomisch gefasst werden kann.
Literaturhinweise
- Bourdieu, P. (1984). Distinction. Harvard University Press.
- Crouch, C. (2008). Postdemokratie. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
- Luhmann, N. (1969). Legitimation durch Verfahren. Neuwied: Luchterhand.
- Streeck, W. (2013). Gekaufte Zeit. Berlin: Suhrkamp.