Galgenvogel-Perspektive mit kritischem BeiĂreflex â literarisch im Geist Hoffmanns von Fallersleben
Die Skepsis schabt wie Sand an alten Fenstersprossen. Ein GruĂ, so harmlos wie ein Kiesel, wirft Wellen in der Glasvitrine der Gesellschaft. Wir blicken hinab â vom Ast, vom Galgen, vom schiefen Turm der kleinen Wahrheiten â und sehen, wie sich hinter der zuckenden Lippenfalte ein System versteckt, das atmet und zĂ€hlt und fragt: Funktionierst du?
âRoutine und Strukturâ â Die perfide Umcodierung
Die vermeintlich âberuhigendeâ Routine ist keine Wohltat, sie ist ein Lehrmeister mit Peitsche aus Gewohnheit; Konditionierung auf Verwertungslogik in sanfter AusfĂŒhrung.
Fabrikuhr des Sozialen: Der ritualisierte GruĂ schlĂ€gt das Stundenglas nicht fĂŒr die Seele, sondern fĂŒr den Takt der ProduktivitĂ€t. Wer morgens den Mund formt, stimmt die Glieder auf die Uhr; der Körper wird metronomisch, die Zeit ein Zifferblatt, das nicht mehr nur Uhren, sondern Menschen misst.
Simulierte Geborgenheit: Die Wörter wiegen, sie flĂŒstern âAlles ist geordnetâ â doch diese Ordnung glĂ€ttet nur Störungen, bĂŒgelt Kontingenz zur Einfalt. Die Illusion der WĂ€rme dient der Reibungsminimierung: weniger Funken, weniger Fragen, leichteres Drehen des Apparates.
KonformitĂ€tsprobe: Ein GruĂ ist PrĂŒfstein und Schranke zugleich. Wer nicht grĂŒĂt, wird schief beĂ€ugt; wer zu lebhaft grĂŒĂt, wird verwundert. Die Norm erhebt sich wie ein unsichtbarer Schiedsrichter, prĂŒfend, mild und unbarmherzig zugleich.
Wirtschaftsfaschismus im Mikrokosmos
So klein es scheint, so groĂ ist die Geste: der MorgengruĂ als Mikrofascio â eine Kleinarchitektur des Zwangs, in der sich der Ton der Welt spiegeln lĂ€sst.
Standardisierung der Affekte â Freundlichkeit wird verwertbar: ein Rohstoff, der gemessen, kalibriert und eingesetzt werden kann. Ein LĂ€cheln tilgt den Widerstand, ein Nicken ersetzt ein Argument.
Kolonialisierung der Aufmerksamkeit â Der GruĂ entreiĂt dem Geist die erste freie Minute: ein kurzer Riss, und das Denken fĂ€llt in die LĂŒcke. Kopf senken, Sozialmaske aktivieren â und das eigene Fragen ruht bis zur Mittagspause.
Reproduktion der Hierarchie â Wer zuerst grĂŒĂt, wer antwortet, wie lange das Augenspiel dauert: kleine Riten schreiben Rang und Rangordnung in die Luft; unsichtbare Linien ziehen sich von TĂŒr zu Tisch, von Flur zu Flur.
Zitat des Dorfzwockels:
âHinter jedem âGuten Morgenâ lauert ein âFunktioniere!â Die ZĂ€higkeit des Kaffees, die HĂ€rte des Schreibtischs â alles schon im GruĂ enthalten.â
Alternativentwurf
Wie könnte ein GruĂ klingen, der die Ketten nicht lĂ€nger fĂŒttert? Ein befreiender GruĂ wĂŒrde Risse erlauben â und in jenen Rissen die Möglichkeit entzĂŒnden.
BrĂŒche zulassen: âMöge dein Morgen so gut sein, wie er sein kann â oder auch nicht.â Ein Satz, der Unbestimmtheit segnet und Contingency als Normalzustand anerkennt.
Erlaubnis zur Unvollkommenheit: Ein kleines Handzeichen statt eines stummen Programms. Eine Geste, die Anteil nimmt, ohne Anspruch auf Performance zu erheben.
Kurze, ehrliche Rituale: Statt standardisierter Höflichkeit ein Moment der Frage: âWie gehtâs gerade wirklich?â â und dann schweigen dĂŒrfen. Eine leise Einladung statt einer Verpflichtung.
Rituale der Entschleunigung: Einen Atemzug verschenken, bevor man antwortet; die Zeit als eigenes Gut behandeln, nicht als Schuldschein an die Arbeit.
Ein möglicher, befreiender Morgengruà (als Mini-Ritual)
- Blickkontakt â nicht prĂŒfend, nur anwesend.
- Ein kurzes, echtes Wort: âGuten Morgenâ oder âAlles gut?â oder auch Schweigen.
- Ein freies Ende: keine Antwortpflicht; das GegenĂŒber darf ein, aus oder still bleiben.
Schlussstrophe â im Schnabel des Galgenvogels
O Morgen, laĂ den Zwang dir nicht anhaften,
wie eine Uhr, die stumm den Menschen misst.
Ein GruĂ, ein Atem â solltâ er nicht verkraften
die Schwere, die der Hung der Pflichten ist.
Lass Brechen sein, wo Brechen nötig, leise;
und Freiheit dort, wo Pflicht zu schwer gedeiht.
Ein Wort â kein Befehl â in dieser alten Reise,
so möge neue Morgenstunde schreiten weit.
Ende.