LehrplÀne als algorithmische Bewusstseinsmaschinen
Eine literarisch verzerrte Studie in Abgrenzung zur pÀdagogischen Grundlinie Margot Honeckers
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đ Vorwort
Zur Fiktion dieser Studie
Die nachfolgende Studie ist ein dokumentarisches Konstrukt. Sie bedient sich der Formen akademischer Forschung â Zitat, FuĂnote, Lehrplananalyse, Kanondebatte â ohne jedoch beanspruchen zu wollen, realpolitisch im engeren Sinne âkorrektâ zu sein.
Stattdessen operiert sie in jenem Zwischenraum, in dem sich Literatur, PĂ€dagogik und Erinnerung gegenseitig infizieren. Die Lehrplanfragmente sind fiktional, die Zitate teilweise erfunden, die Dokumente möglich, aber nicht nachweisbar. Die verwendete Sprache changiert zwischen Protokoll, Poesie und Polemik â mit Absicht.
Diese Studie erhebt nicht den Anspruch auf empirische GĂŒltigkeit, sondern auf strukturelle Wahrheit: Sie will zeigen, wie LehrplĂ€ne denken â nicht nur, was sie lehren. Sie will sichtbar machen, was durch Auswahl verschwindet.
âWas nicht mehr aufgefĂŒhrt wird, wird bald nicht mehr erinnert. Und was nicht erinnert wird, war nie Teil der Gegenwart.â
In diesem Sinne ist dieses Projekt ein poetisches Archiv â und eine polemische FuĂnote zur Geschichte der deutschen Bildungsverwaltung nach der Wiedervereinigung.
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đ Aphorismus & Archivfund
âLehrplĂ€ne sind gebundene Algorithmen.â
Aus dem internen Memo des SĂ€chsischen Bildungsrats (1997):
âPriorisierung von Kanontexten zur Stabilisierung des kulturellen GedĂ€chtnisses.â
Randnotiz (unbekannte Hand, Kugelschreiber):
âSie lehren uns, was wir vergessen sollen.â
FuĂnote: Das Memo listet 19 âentbehrlicheâ Texte der DDR-Literatur. BegrĂŒndung: âFehlende AnschlussfĂ€higkeit an den vereinten Diskursraum.â
Kommentar der Herausgeberin (2023): âBildungskanĂ€le graben sich tiefer als digitale Filter. Was sie aussieben, wird unsichtbarer als das nie Geschriebene.â
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I. Einleitung: Im Schatten der Tafel
Im Schulraum â weiĂ getĂŒncht, kalt fluoreszierend â klirrt das GedĂ€chtnis. LehrplĂ€ne schieben sich wie Fensterschlitze zwischen Generationen. Man reicht dem SchĂŒler nicht Wissen, sondern Weltbilder in Verpackungseinheiten.
âUnsere Kinder sollen lernen, Partei zu ergreifen.â â Honecker, 19701
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II. Didaktik als Diskurswaffe
Die sozialistische Bildungsdoktrin war kein Unterricht, sondern eine Disziplinarchitektur: Kanon = Katalog der ZuverlĂ€ssigen. LektĂŒre = kontrollierte Infusion. Interpretation = genehmigter Zugriff auf Bedeutung.
Die Literatur des anderen Deutschland wurde nicht gelehrt, sondern gefiltert â durch Ideologie, spĂ€ter durch ökonomische AnschlussfĂ€higkeit.
âLehrplĂ€ne berechnen nicht nur Inhalte, sondern Vergessen.â
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III. Post-Sozialistische Reprogrammierung
âFehlende AnschlussfĂ€higkeit an den vereinten Diskursraum.â â Memo SĂ€chsischer Bildungsrat (1997)
Texte wurden entfernt, nicht weil sie falsch waren â sondern weil sie nicht kompatibel waren. Der neue Kanon war westlich, marktfĂ€hig, und vertrug keine dissonanten Stimmen.
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IV. Lehrplanfragmente (1990â2023)
Fragment 01 â Deutsch, Bezirk Leipzig (1990)
PflichtlektĂŒre Klasse 11:
- Christa Wolf â Kassandra
- Stephan Hermlin â Abendlicht
- Heiner MĂŒller â AusgewĂ€hlte Texte
Zielstellung: Die SchĂŒler:innen sollen die sozialistische Wirklichkeit literarisch reflektieren.
â Randnotiz: âHermlin ersetzen â zu Ă€sthetisch, zu wenig erzieherisch.â
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Fragment 02 â AG Kanonbildung Sachsen (1997)
Aus der Streichliste:
- Brigitte Reimann â Franziska Linkerhand
- Erik Neutsch â Spur der Steine
BegrĂŒndung: Geringe AnschlussfĂ€higkeit an den gesamtdeutschen Diskurs.
â Handschriftlich: âKein Platz fĂŒr ZwischenrĂ€ume. Nur Sieg oder Schweigen.â
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Fragment 03 â NRW-Lehrplan Oberstufe (2012)
PflichtlektĂŒre:
- Bernhard Schlink â Der Vorleser
- Uwe Timm â Am Beispiel meines Bruders
Hinweis: DDR-Texte nur, wenn sie keinen einseitigen Blick transportieren.
â Randnotiz: âWas ist ein zweiseitiger Blick auf einen Einparteienstaat?â
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Fragment 04 â Digitaler Bildungskanon (2023)
Empfohlene Inhalte:
- Kuratierte YouTube-Videos
- Podcast âNachwendekinder erzĂ€hlenâ
- Web-App GrenzlÀufer
Abschlussprojekt: Remix-GedÀchtnis: Digitale Collage individueller Erinnerungspfade
â Pilotgruppenkommentar: âWoran erinnern sich die, die nie erfahren durften, was vergessen wurde?â
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Fragment 05 â Protokollnotiz AG Lehrplan Ost/Nachlese (ca. 2006)
âVielleicht sollten wir auch eine Kategorie fĂŒr verlorene Texte einfĂŒhren â Texte, die verschwanden, ohne erklĂ€rt zu werden.â
â Letzter Eintrag: âSie sind nicht verloren â wir haben sie aufgegeben.â
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V. Kommentar: Differenz zur Honecker-Linie
Element | Honeckerâsche PĂ€dagogik | Gegenposition dieser Studie |
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Bildung | Erziehung zur StaatsmĂŒndigkeit | Deprogrammierung des GedĂ€chtnisses |
Kanon | stabilisierend, geschlossen | porös, archÀologisch |
Literaturdidaktik | Funktion der Ideologie | Störung der Narrative |
Lehrerrolle | Parteivertreter | semantischer Widerstandskörper |
Erinnerung | gelenkt, zentralisiert | rhizomatisch, brĂŒchig |
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VI. Abschluss
Der Lehrplan ist keine Tafel, sondern ein Bildschirm mit Filterfunktion. Was nicht angezeigt wird, existiert nicht im Curriculum der Zukunft.
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đ Literatur & Verweise (APA-Stil)
SĂ€chsischer Bildungsrat. (1997). Memo zur Kanonrevision [Unveröffentlichtes internes Dokument]. Ministerium fĂŒr Bildung NRW. (2012). Rahmenplan Deutsch Oberstufe. Bundesministerium fĂŒr Bildung und Forschung. (2023). Pilotprojekt Digitaler Bildungskanon.
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Letzte Bearbeitung: September 2025
Footnotes
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Honecker, M. (1970). Bildungsbericht der DDR. Staatsverlag Berlin. â©