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Hybrides Manifest und Negative Dialektik: Zur Protokollierung des Alltags im SpÀtkapitalismus

Abstract

Das hier untersuchte „hybride Manifest“ (Dorfzwockel, 2025) stellt eine radikal-ironische Rekodierung spĂ€tkapitalistischer Lebensformen in die Sprache digitaler Infrastrukturen dar. Indem es Beziehungen, FreizeitaktivitĂ€ten und Zukunftsvorstellungen in Protokolle, Commits und Patch-Files ĂŒbersetzt, legt es eine doppelte Entfremdung frei: die Verwobenheit des Subjektiven mit den RationalitĂ€tsfiguren technischer Systeme. In der Tradition Adornos wird gezeigt, wie diese Fragmente die Unmöglichkeit authentischer Kommunikation ebenso wie die fortschreitende Totalisierung der instrumentellen Vernunft artikulieren.


1. Beziehungen als Netzwerkprotokolle

Das Manifest eröffnet mit einer Diagnose, die sowohl techniknah als auch gnadenlos prÀzise ist:

„Familie: Ein verteiltes System ohne Consensus-Algorithmus. Fehlertoleranz durch redundante Weihnachtsessen. Letzte erfolgreiche Synchronisation: unbekannt“ (Dorfzwockel, 2025, S. 1).

Dieser Satz verweist auf die elementare UnfĂ€higkeit des SpĂ€tkapitalismus, stabile Formen von NĂ€he und IntimitĂ€t hervorzubringen. Wie Adorno (1966/2003) feststellt, wird das „Unwahre“ zur TotalitĂ€t gesellschaftlicher Erfahrung: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ (S. 43). Dass das Manifest die Familie mit technischen Standards kontrastiert – „Blut ist dicker als Wasser, aber dĂŒnner als TLS 1.3“ (Dorfzwockel, 2025, S. 1) – offenbart, wie biologische Verwandtschaft bereits von der Logik formaler Protokolle unterwandert ist.

Arendt (1958) analysierte, dass die Öffentlichkeit im Privaten verschwindet, indem sie zur bloßen FunktionalitĂ€t verkĂŒmmert. Das Manifest transponiert diesen Gedanken in die digitale Gegenwart: Wenn „Öffentlichkeit zum Privatprotokoll verkĂŒmmert“ (Dorfzwockel, 2025, Fn. 1)1, dann sind auch die elementaren Beziehungsformen nur noch Schnittstellenoperationen in einem inkompatiblen Netzwerk.


2. Hobbys als Open-Source-Existenzen

Die zweite Passage verschiebt den Fokus von der Familie auf die SphÀre der Freizeit:

„19:37 Uhr: Git-commit einer Töpfer-AG in Neukölln. Message: ‚FĂŒge existentiale Rissbildung hinzu (Wabi-Sabi-PR #42).‘ Review: Ausstehend. Motivation: Kaffee und der Wunsch, Ton als nicht-binĂ€ren Speicher zu nutzen“ (Dorfzwockel, 2025, S. 2).

Hier wird das Handwerkliche, das traditionell als SphĂ€re der AuthentizitĂ€t galt, in das Register digitaler Kollaboration ĂŒberfĂŒhrt. Sloterdijk (1983) beschreibt das Basteln als „zynische Restpraxis“ (S. 412), in der Subjekte ein Minimum an Selbstbehauptung vollziehen. Doch auch diese Restpraxis erscheint bereits hybridisiert: „Jede Skulptur ist ein Fork der RealitĂ€t“ (Dorfzwockel, 2025, Fn. 2)2. Die Pointe ist unerbittlich: Selbst die vermeintlich nicht-digitale AktivitĂ€t – das Formen von Ton – steht im Bann der Versionslogik und der unabschließbaren Differenzierung des Codes.

Adorno hĂ€tte dies als weiteres Beispiel fĂŒr die „Verdinglichung des Geistigen“ bezeichnet, die dazu fĂŒhrt, dass „Kunstwerke zur bloßen Ware degenerieren“ (Adorno, 1970/2013, S. 32). Im Manifest wird dieser Prozess performativ vorgefĂŒhrt.


3. Zukunft als laufendes .patch-File

Das dritte Fragment setzt noch radikaler an:

„Persönliche Entwicklung ist ein Merge-Konflikt zwischen ‚self_improvement.md‘ und ‚burnout.log‘. Gelöst durch: $ git reset --hard Kindheit; $ make nostalgia“ (Dorfzwockel, 2025, S. 3).

Die Zukunft wird hier als Reparatur, als permanentes Patchen einer beschĂ€digten Gegenwart inszeniert. Die Commands „reset“ und „make“ zeigen, dass selbst die regressiven SehnsĂŒchte – Kindheit, Nostalgie – nur noch im Modus der Softwareverwaltung artikulierbar sind.

Han (2010) hat gezeigt, dass die „MĂŒdigkeitsgesellschaft“ von der Paradoxie lebt, dass Subjekte im Namen der Freiheit zur Selbstoptimierung verpflichtet werden. Das Manifest legt diese Paradoxie als technische AbsurditĂ€t offen: Selbstoptimierung fĂŒhrt direkt in den Kernel-Panik-Zustand (Dorfzwockel, 2025, Fn. 3)3. Adorno hĂ€tte in dieser Figuration die Erfahrung gesehen, dass „Fortschritt sich als Katastrophe wiederholt“ (Adorno & Horkheimer, 1944/2002, S. 55).


Epilog: Die komprimierte Existenz

Schließlich kondensiert das Manifest seine Beobachtungen:

„All diese Themen sind Überlebenspakete in der .zip-Datei des SpĂ€tkapitalismus. Sie komprimieren Trost, entpackt aber wird nur, was die Checksumme des Moments erlaubt“ (Dorfzwockel, 2025, S. 4).

Die „Checksumme des Moments“ ist eine prĂ€gnante Umschreibung dessen, was Adorno (1966/2003) das „Nichtidentische“ nennt: jenes, was sich nicht in den Zwang des Systems einfĂŒgen lĂ€sst, aber im Vollzug doch wieder reduziert wird. „Die beste Version ist immer die, die nicht committed wurde“ (Dorfzwockel, 2025, Fn. 3)3 – hierin liegt die NegativitĂ€t, die den affirmativen Zirkel durchbricht.


Literatur


Footnotes

  1. Arendt, H. (1958). Vita activa oder Vom tĂ€tigen Leben. MĂŒnchen: Piper. ↩

  2. Sloterdijk, P. (1983). Kritik der zynischen Vernunft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. ↩

  3. Han, B.-C. (2010). MĂŒdigkeitsgesellschaft. Berlin: Matthes & Seitz. ↩ ↩2