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Der Riss — Zwischen Pulskurve und pulsierendem Sein

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ErgÀnzung zur Methodenkritik des voran gegangenen Beitrags


Titelseite

Titel: Der Riss — Zwischen Pulskurve und pulsierendem Sein
Autor: Dorfzwockel Datum: 14. September 2025 Format: Markdown ‱ APA 7


Abstract

Die gegenwĂ€rtige Wissenskultur privilegiert messbare, außenorientierte Daten (Biometrie, Big Data, Systemanalysen) und marginalisiert damit die erste-Person-Erfahrung des Subjekts. Aufbauend auf Ken Wilbers Vier-Quadranten-Model und phĂ€nomenologischen Einsichten wird argumentiert, dass ein ontologischer „Riss“ zwischen Pulskurve (Messung) und pulsierendem Sein (Erleben) besteht. Der Essay zeigt methodische, institutionelle und ethische Konsequenzen auf und schlĂ€gt konkrete Anpassungen vor: pratisaneepistemologische Forschungspraxen, eine Mixed-Inquiry-PrioritĂ€t und institutionelle Verfahren, die subjektive Evidenz epistemisch ernst nehmen.

Stichwörter: Oben-Links, PhÀnomenologie, Filterblasen, Biometrie, Pratisaneepistemologie


Einleitung

In einer Zeit, in der Messgenauigkeit und DatenverfĂŒgbarkeit exponential wachsen, offenbart sich ein Paradox: Je prĂ€ziser Messverfahren das Leben zu erfassen versprechen, desto intensiver tritt die Differenz zwischen dem, was gemessen wird, und dem, was erlebt wird, hervor. Diese Differenz — hier als Riss bezeichnet — ist nicht nur ein methodisches Problem, sondern eine ontologische Spannung: Messbare ZustĂ€nde (Pulskurven) sind nicht identisch mit der lebendigen Erfahrung (pulsierendes Sein). Diese Arbeit unternimmt den Versuch, die Spannung theoretisch zu fassen, methodisch zu problematisieren und institutionelle Konsequenzen vorzuschlagen.


Theoretische Grundlagen: Wilber, PhÀnomenologie, Praktiken

Ken Wilbers Vier-Quadranten-Modell bietet eine pragmatische Landkarte, um unterschiedliche Erkenntnisregister zu ordnen: Oben-Links (Innen, individuell), Oben-Rechts (Außen, individuell), Unten-Links (Innen, kollektiv) und Unten-Rechts (Außen, kollektiv) (Wilber, 2000). Moderne Forschung und Plattformökonomien tendieren dazu, Oben-Rechts und Unten-Rechts zu favorisieren: sie messen, strukturieren und optimieren. Das Oben-Links — die erste-Person-Perspektive — wird hingegen epistemisch marginalisiert.

PhĂ€nomenologische AnsĂ€tze (Husserl, Merleau-Ponty) erinnern daran, dass Bewusstsein und Erfahrung nicht einfach als EpiphĂ€nomene Ă€ußerer ZustĂ€nde verstanden werden können; sie besitzen eine eigene IntentionalitĂ€t und Gegebenheit, die sich nicht vollstĂ€ndig aus Dritt-Perspektiven rekonstruieren lĂ€sst (Husserl, 1913/2009; Merleau-Ponty, 1966/1976). Diese Einsichten unterlegen die Behauptung, dass die Pulskurve (als Symbol fĂŒr Messdaten) notwendigerweise unvollstĂ€ndig bleibt gegenĂŒber dem pulsierenden Sein.

Praktische Forschungstraditionen wie die Autoethnographie oder die pratisaneepistemologische Forschung betonen die epistemische Relevanz von biografischer, praktischer und partizipativer Erkenntnisproduktion (Ellis, 2004; Schön, 1983). Solche ZugĂ€nge eröffnen Werkzeuge, um das Oben-Links systematisch in den Forschungsprozess einzufĂŒhren.


Der ontologische Riss: Beschreibung und Dynamik

Die Pulskurve ist ein kompakter, abstrahierender Datensatz: sie zeigt Zyklen, AusschlĂ€ge, statistische Parameter. Das pulsierende Sein umfasst hingegen Leben, GefĂŒhltsein, Bedeutungsgehalte, Narrative und KontextverknĂŒpfungen. Der Riss entsteht, wenn die interpretative Macht der Pulskurve ĂŒberhandnimmt und die Wirklichkeit als vollstĂ€ndige Darstellung missversteht. Drei Aspekte sind hier zentral:

  1. Reduktionsproblem: Messungen reduzieren Vielfalt zu messbaren Variablen; unmessbares Erleben geht verloren.
  2. ReprÀsentationsdefizit: Daten geben ZustÀnde an, nicht Bedeutungen. Dass ein Herzschlag bei 120/min liegt, erklÀrt nicht die Angst, die dem Subjekt in diesem Moment eigen ist.
  3. Performative Effekte: Messungen beeinflussen Verhalten (Selbstbeobachtung, Algorithmische RĂŒckmeldungen) — und verĂ€ndern so das, was ursprĂŒnglich gemessen werden sollte.

Diese Dynamik ist ontologisch: sie betrifft, wie wir sein und erkennen. Sie ist nicht allein technisch lösbar; sie verlangt methodische und ethische Neuorientierungen.


Algorithmische Filter-, Empfehlungssysteme und datengetriebene Plattformökonomien strukturieren öffentliche Diskurse und Lebenspraxis. Pariser (2012) prĂ€gte hierfĂŒr das Bild der „Filter Bubble“: personalisierte InformationsrĂ€ume, die Wahrnehmung und Weltverstehen selektiv formen. Wenn Plattformen auf Außen-/Systemebenen optimieren (Unten-Rechts / Oben-Rechts), vernachlĂ€ssigen sie in der Regel die qualitative, subjektive Bedeutung von Inhalten. Das Ergebnis ist eine kulturelle Ökologie, in der das Oben-Links epistemisch schwĂ€cher gestellt wird — nicht aufgrund von mangelnder Relevanz, sondern weil es schwer zu skalieren und zu monetarisieren ist.

Zuboff (2018) weist darĂŒber hinaus auf die politischen Ökonomien hin, die aus der Datensammlung Profit ziehen und damit institutionelle KrĂ€fte schaffen, die objektivierende Wissensformen bevorzugen. Diese Verflechtung von Technologie, Ökonomie und Erkenntnisproduktion verstĂ€rkt den Riss.


Methodische Konsequenzen: VorschlĂ€ge fĂŒr Forschungspraxis

Um den Riss produktiv zu adressieren, schlage ich drei miteinander kombinierbare methodische Anpassungen vor:

1. Pratisaneepistemologie als Forschungsparadigma

Pratisaneepistemologie bedeutet, Forschung so zu organisieren, dass Praxisakteure (Praktiker*innen) und ihre erste-Person-Evidenz zentrale Datenquellen sind. Methoden: partizipative Feldforschung, Longitudinal-Autoethnographien, kollektive Fallrekonstruktionen (Ellis, 2004; Schön, 1983).

2. Mixed-Inquiry mit PrioritĂ€t fĂŒr erste-Person-Daten

Nicht: quantitative Daten oder qualitative Erfahrung; sondern: quantitativ ergĂ€nzen, qualitativ begrĂŒnden. Quantitative Messungen dienen der Triangulation, nicht als primĂ€re Evidenzinstanz. Hypothesen sollen aus subjektiven Beschreibungen hervorgehen und mit Messungen geprĂŒft werden.

3. Institutionelle Prozeduren zur Anerkennung subjektiver Evidenz

Peer-Review-Prozesse, Forschungsförderlinien und Journals mĂŒssen Kategorien etablieren, die autobiographische und phĂ€nomenologische Evidenz als valide anerkennen. Dazu gehören formalisierte Rubriken fĂŒr ReflexivitĂ€t, methodische Transparenz fĂŒr Autoethnographien und Evaluationskriterien, die narrative GĂŒltigkeit (credible resonance) einschließen.


Ethische und politische Implikationen

Die epistemische Marginalisierung des Ichs hat konkrete Folgen: politische Entscheidungen, die sich nahezu ausschließlich auf aggregierte Daten stĂŒtzen, können Leid, WĂŒrde und konkrete Lebensbedingungen falsch einschĂ€tzen. Eine epistemische Rezentrierung des Oben-Links ist daher zugleich politisch: Sie fordert Anerkennung, Selbstbestimmung und Schutz vor einer totalen Äußerlichkeit, die Menschen auf ihre messbaren Parameter reduziert.


Praktische Empfehlungen (Kurzfassung)


Fazit

Der Riss zwischen Pulskurve und pulsierendem Sein ist kein technischer Fehler, den man durch bessere Sensorik ausgleicht. Er ist ein epistemologisches Zeichen: die Aufforderung, das Leben wieder zur empirischen Mitte zu machen. Die Quadranten sind nĂŒtzliche Werkzeuge — aber sie dĂŒrfen nicht zu Herren werden. Eine verantwortliche Wissenschaft organisiert Messergebnisse als ergĂ€nzende, nicht ersetzende Formen des Wissens. Wenn wir nicht aufpassen, verlieren wir die Erfahrung, die dem Denken und der Praxis ihren Sinn gibt.


References (APA 7, aktualisiert)

Pariser, E. (2012). Filter Bubble. Wie wir im Internet entmĂŒndigt werden (U. Held, Übers.). Carl Hanser Verlag. ISBN 978-3-446-43034-1.

Zuboff, S. (2018). Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus (B. Schmid, Übers.). Campus Verlag. ISBN 978-3-593-50930-3.

Wilber, K. (2000). A Theory of Everything: An Integral Vision for Business, Politics, Science, and Spirituality. Shambhala. ISBN 978-1-57062-724-8.

Ellis, C. (2004). The Ethnographic I: A Methodological Novel about Autoethnography. AltaMira / Bloomsbury Academic. ISBN 978-0-7591-0051-0.

Schön, D. A. (1983). The Reflective Practitioner: How Professionals Think in Action. Basic Books. ISBN 978-0-465-06878-4.

Husserl, E. (1913/2009). Ideen zu einer reinen PhÀnomenologie und phÀnomenologischen Philosophie (E. Ströker, Hrsg.). Felix Meiner Verlag. ISBN 978-3-7873-1919-0.

Merleau-Ponty, M. (1966/1976). PhĂ€nomenologie der Wahrnehmung (R. Boehm, Übers.). De Gruyter. ISBN 978-3-11-006884-9.

Feng, S., MÀntymÀki, M., Dhir, A., & Salmela, H. (2021). How self-tracking and the quantified self promote health and well-being: Systematic review. Journal of Medical Internet Research, 23(9), e25171. https://doi.org/10.2196/25171

Desjardins, A., Tomico, O., Lucero, A., Cecchinato, M. E., & Neustaedter, C. (2021). Introduction to the special issue on first-person methods in HCI. ACM Transactions on Computer-Human Interaction, 28(6), Article 37. https://doi.org/10.1145/3492342

Weger, U., & Wagemann, J. (Eds.). (2020). First-person science of consciousness: Theories, methods, applications. New Ideas in Psychology, 58 (Special Issue). Elsevier.